cognitio: Kognitions- und Neurowissenschaftliche Beiträge 
zur Sprachverarbeitung natürlicher Sprache

Herausgeber:

Georges Lüdi (Basel), Michael Schecker (Freiburg), Martin Riegel (Strasbourg)

Band 12: 

Dominic Veit & Michael Schecker (Hgg.):
"Beschreiben" und "Erklären" in der klinischen Linguistik.
Günter Kochendörfer zum 60. Geburtstag
Tübingen: Günter - Narr - Verlag (2000); ca. 180 Seiten, ISBN 3-8233-5738-7

Vorwort

"Beschreiben" und "Erklären" kennzeichnet wie kein anderes Begriffspaar die wissenschaftstheoretische und methodologische Lage der modernen Linguistik. Anders nämlich als die sog. "genetisch-historischen" Erklärungen der älteren historischen Sprachwissenschaft (die natürlich nichts mit Genetik zu tun haben) geht es in der deskriptiven strukturellen Sprachwissenschaft nicht mehr um den Rückgriff auf die Entstehung sprachlicher Erscheinungen aus historischen Veränderungsprozessen, sondern zunächst einmal um die systematische Subsumierung z.B. singulärer grammatischer Gegebenheiten unter allgemein gültige deskriptive Prinzipien und Regeln der Grammatik der betreffenden Sprache. Was mit anderen Worten mit dem Strukturalismus auch in der Sprachwissenschaft Einzug gehalten hat, sind Subsumtionserklärungen, wie sie bis dahin nur für die Naturwissenschaften zu gelten schienen.

Was heißt hier mit anderen Worten "Erklärung"? Auf die wesentlichen Aspekte verkürzt gilt ein singuläres grammatisches Phänomen dann als erklärt, wenn ich es als Fall allgemeiner Regeln und Prinzipien beschreiben kann; "Erklärung" als subsumierende "Beschreibung". - Über diesen Standpunkt geht die generative Grammatik ein spezifisches Stück weit hinaus. Hier geht es nicht mehr um allgemeingültige deskriptive Prinzipien und Regeln der Grammatik einer Einzelsprache - etwa als Basis der (subsumierenden) Erklärung einzelner grammtischer Erscheinungen dieser Sprache, sondern es geht um den einzelsprachlichen Sprecher und dessen sprachliche Kompetenz; um die Fähigkeit des native speaker also, unbegrenzt viele Sätze seiner Sprache produzieren und verstehen zu können. Entsprechend gilt jetzt ein singuläres grammatisches Phänomen erklärt, wenn ich es mithilfe eines Regelwerks, das die Kompetenz von native speakern der betreffenden Einzelsprache wiedergibt, erzeugen bzw. generieren kann; im übrigen muß ein solches einzelsprachliches Regelwerk mit übereinzelsprachlichen Prinzipien kompatibel sein.

Die von Chomsky zugrundegelegte Modellierung des native speakers (ein idealer Sprecher-Hörer) ist automatentheoretisch begründet. Ganz unabhängig der Frage, ob die Kompetenz eines native speakers tatsächlich nur in der Fähigkeit besteht, unbeschränkt viele Sätze seiner Sprache produzieren und verstehen zu können (Sprechen heißt handeln!), bleibt als zentraler Kritikpunkt des automatentheoretisch begründeten Ansatzes, daß er bestenfalls die Leistungen eines native speaker wiedergeben kann; eine Chomky’sche ‚generierende Grammtik‘ erbringt diese Leistungen jedoch auf gänzlich andere Weise als der native speaker; so gesehen ist das von Chomsky vorgestellte Modell des native speaker (jedenfalls soweit er ein idealer Sprecher-Hörer seiner Sprache ist) ein Modell ohne Original.

`Modell ohne Original‘ – was kennzeichnet dagegen Modellierungen der Sprachverarbeitungsfähigkeiten eines native speaker, die dem Anspruch zu genügen versuchen, solche Leistungen auf die gleiche Weise zu erbringen, wie das der native speaker macht? Kochendörfer – in intimer Kenner der ‚generierenden Grammatiken‘ - hat in seinen Arbeiten als einer der ersten die Konsequenzen aufgearbeitet – und daran orientierte Modellvorstellungen entwickelt. Zentral dürfte sein, daß sich Modelle der menschlichen Sprachverarbeitungsfähigkeit strikt an unserem Wissen um den neurofunktionalen Aufbau des menschlichen Gehirns und an der Funktionsweise von Nervenzellen und Nervenzellverbänden zu orientieren haben; Modellfragmente eines solchen Typs müssen neurobiologisch präzisiert werden können (oder doch – abhängig vom Entwicklungsstand unseres Wissens und unserer Untersuchungsmöglichkeiten – potentiell neurobiologisch präzisierbar sein).

Es gibt eine Reihe paralleler Versuche, die Vorstellungen Chomskys zu überwinden; die Modellvorstellungen Levelts sind sicher der prominenteste Versuch dieser Art. Doch auch hier greift die Kardinalkritik Kochendörfers, daß ein Modell der menschlichen Fähigkeiten zur Sprachverarbeitung, das sich eher an der Arbeitsweise von Computern orientiert als an der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns, eben deshalb hoch problematisch erscheint. Hier hilft auch die Vorstellung nicht weiter, daß computerorientierte Darstellungsweisen sich jederzeit in neurobiologisch orientierte Netzwerkmodellierungen bzw. in am menschlichen Gehirn orientierte Darstellungsweisen ‚übersetzen‘ lassen, - sie lassen sich eben ein gutes Stück weit nicht übersetzen! 

Nimmt man das Postulat der neurobiologischen Präzisierbarkeit ernst, dann bekommen Erklärungen z.B. singulärer grammatischer Erscheinungen einen besonderen Wert: Spätestens jetzt handelt es sich nicht mehr nur um die Subsumtion unter allgemeine Prinzipien und Regeln, genauer um die Ableitung einer singulären grammatischen Erscheinung aus einem irgendwie gearteten allgemeinen Prozeßmodell der Kompetenz eines native speaker. Sondern mit dem Anspruch, kein Leistungsmodell, sondern ein (neurobiologisch präzisierbares) Funktionsmodell als Erklärungsgrundlage zu verwenden, wird die Erklärung einer singulären sprachlichen Erscheinung zu einer Erklärung, wie ein realer (kein idealer) Sprecher/Schreiber ein entsprechendes grammatisches oder lexikalisches Phänomen produziert hat.

Und erst jetzt lassen sich entsprechende Erklärungen auch anwenden auf sprachpathologische Phänomene; denn die Realität der alltäglichen Sprachverarbeitung ist durchsetzt mit Fehlleistungen, Abbrüchen, Entgleisungen usw.; und selbstverständlich sind auch solche Phänomene Gegenstand nicht nur einer systematisierenden Beschreibung, sondern auch der Erklärung. Mehr noch ist die zugrundegelegte Modellierung eines realen Sprechers/Schreibers bzw. Hörers/Lesers die 'Bedingung der Möglichkeit' der Erklärung sprachpathologischer Erscheinungen und damit auch Grundlage therapeutischer Interventionen.

Günter Kochendörfer wird 60 Jahre alt, ein guter Grund, ihm - dessen Arbeiten ganz zentral für den oben entwickelten Ansatz stehen - eine Festschrift zu widmen, in der ihm Schüler und Kollegen ihre Anerkennung bezeugen. 'Schüler' auch in einem umfassenderen Sinne, denn Günter Kochendörfer hat tatsächlich eine eigenständige neurolinguistische 'Schule' ins Leben gerufen, in der - bis jetzt einzigartig - nicht nur neurobiologisch fundierte Netzwerkmodellierungen des menschlichen Gehirns entwickelt, sondern auch in Simulationsexperimenten für die Erforschung sprachpathologischer Erscheinungen genutzt werden.

Die folgenden Beiträge sind in drei Blöcken geordnet. Den Anfang machen Ausführung zu neuronalen Netzwerkmodellierungen. Er folgt ein Block speziell über die Alzheimer-Demenz (und die hier zu beobachtenden Sprachabbauphänomene), darauf ein Block über Sprachverarbeitung und Kommunikationsverhalten kranker Kinder. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag über die Inter- oder "Transdisziplinarität" der Neurowissenschaften, der zugleich einen der zentralen Aspekte des wissenschaftlichen Selbstverständnisses von Günter Kochendörfer thematisiert.

Inhalt

Michel Schecker: Neuronale "Kodierung" zentraler Sprachverarbeitungsprozesse

Dominic Veit: Semantische Paraphrasien: Ein Simulationsexperiment zur aphasischen Sprachproduktion

Ulrich Schade: Kochendörfers unbequemes Postulat: Zur Modellierung des Sprachproduktionsprozesses

Max Horneck: "Oh, wie schön ist Panama": Die Bedeutung der Erfahrung bei der Verarbeitung der Gegenwart

Michael Schecker: Demenzen: Was ist derzeit möglich und sinnvoll?

Manohar Faupel: Über Sinn und Unsinn des AAT in der Demenz - Diagnostik

Gabi Möller: Das Hirnleistungstraining IHT® als kognitive Therapie bei Demenz

Silke Maisch: Prädiktives Monitoring bei Alzheimer - Demenz (PMA®): Erste Ansätze zu einer Bestimmung von Normbereichen

Bernd Eichinger: Zum Gesprächsverhalten depressiver Kinder: Eine Fallstudie

Christiane Weber: Aufmerksamkeitsdefizite und Sprachentwicklungsstörungen

Markus Gress - Heister: Transdisziplinarität in den Neurowissenschaften