1. Grundlagen technischer Art

1.1. Allgemeines:

1.1.1 Organisatorisches:

- regelmäßige Anwesenheit (ab 3. Fehlen: Attest) und Mitarbeit

- mündliches Kurzreferat (10 Minuten) oder schriftliches Abstrakt (2-3 Seiten).
Themen werden von Herrn Schecker gestellt und behandeln Praxis-orientierte Problemstellungen der Linguistik.
Wichtig ist bei den Referaten und Abstrakts auch die gute Vermittlung des Themas!
Als Vorbereitungszeit sollten 1-2 Wochen eingeplant werden.

- Abschlussklausur: in der letzten Sitzung (Mindestnote: ausreichend)

- Tutorat

- Arbeit in Kleingruppen

- Skript unter www.neurolabor.de bzw. www.uni-freiburg.de/neurolab

- Herr Schecker
Sprechstunde Dienstags 10,15 - 11,30 Uhr in Raum 3530 (bitte vorher in das
Sprechstundenbuch eintragen – befindet sich vor dem Geschäftszimmer
des Deutschen Seminars). - E-Mail: Michael.Schecker@zfn-brain.uni-freiburg.de

           - Gabi Christmann: per e-mail: christma7@gmx.de

1.1.2 Seminarüberblick:

     I    Semiotische Grundlagen

    II    Systemlinguistik:

                        1. Lautlehre:                - Phonetik

                                                     - Phonologie

                  2.  Formenlehre:          - Morphologie

                                      - Syntax (Anm.1) I (Morphosyntax)

    3. Bedeutungslehre:     - Syntax II (semantische Syntax)

                                      - (lexikalische) Semantik

     III. Pragmatik (Anm.2):                     - Sprechakt-Theorie

                                                          - Konversationsanalyse

Anmerkungen

Anm. 1: Die Abfolge der Segmente einer Äußerung ist von Fall zu Fall ihrerseits bedeutungstragend. Bsp: 201 vs. 102

Anm. 2: Dementielle Patienten weisen gerade in diesem Bereich Probleme auf. Sprichwörter wie "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" können nicht paraphrasiert werden, weil diesen Patienten zwar ein Verstehen der wörtlichen Bedeutung der einzelnen Wörter möglich ist, sie aber nicht zu einer Übertragung auf menschliche Lebensverhältnisse (das wäre ein Gegenstand der Pragmatik) fähig sind.

1.2. Was ist Neurolinguistik?

Die Neurolinguistik ist kein Teilbereich der Linguistik, der sich in das obige Schema einordnen ließe. Vielmehr ist sie eine biologisch-medizinisch orientierte Form, Sprachwissenschaft zu betreiben; d.h. sie bedient sich nicht nur der Kenntnisse der Sprachwissenschaft, sondern verbindet diese mit einem Wissen über medizinisch-biologische Zusammenhänge, um Defizite in der Sprachverarbeitung zu erklären und klinisch zu behandeln. Sie ist somit eine sehr stark praxisorientierte Art, Linguistik zu betreiben.

Die Neurolinguistik versucht, sprachliche Phänomene mit Hilfe von neuronalen Netzen zu erklären. Diese neuronalen Netze bestehen aus Nervenzellen, die alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren und miteinander vernetzt sind. Dieses Modell des neuronalen Netzes entstammt der Biologie bzw. der Biophysik und baut auf der Entdeckung auf, dass bestimmte (sprachliche) Funktionsschwierigkeiten sich durch Läsionen und Abbauphänomene des Gehirns erklären lassen.

Eine Modellierung solcher Dysfunktionen, oder überhaupt des Funktionieren des Gehirns, ist schwierig; auf jeden Fall wissen wir, daß das Gehirn nicht wie ein Computer funktioniert. Während der Computer eindeutig zwischen "Hardware" und "Software" trennen kann (und somit eine weitgehende Unabhängigkeit zwischen diesen beiden Komponenten besteht), verändert sich im menschlichen Gehirn im Rahmen JEDER Form von Aktivierung (z.B. durch Lernprozesse) auch die "Hardware". Dies gilt natürlich auch umgekehrt: Durch eine Veränderung der Grundstrukturen im Gehirn wird auch das nun ausgeführte "Programm" verändert.

Beruflich bietet sich mit der Zusatzqualifikation "Neurolinguist" die Möglichkeit, als Sprachtherapeut zu arbeiten. Besonders wichtig für die spätere berufliche Laufbahn sind ein oder mehre Praktika als parallele Form der Qualifikation, die in einer Klinik, einer Praxis oder einer Arbeitsgruppe im Neurolab absolviert werden können. Zur Qualifikation als Neurolinguist sind mindestens ein dreimonatiges Praktikum oder drei einmonatige Praktika Vorraussetzung.

 

2. Die Semiotik (Zeichenlehre)

2.1. Grundlagen

Die allgemeine Zeichenlehre wird als Semiotik bezeichnet. Die Sprachwissenschaft ist ein Teil der allgemeinen Zeichenlehre. Sie befasst sich ganz konkret mit den sprachlichen Zeichen.

Die älteste Definition des Zeichenbegriffes geht zurück auf Aristoteles: "Aliquid stat pro aliquod" ("Etwas steht für etwas anderes"). Ein Zeichen ist danach also ein Wirklichkeitsausschnitt (eine Lautkette, ein graphisches Gebilde,...), der für einen anderen Wirklichkeitsausschnitt (einen Gegenstand, ein Gefühl, ein Abstraktum,...) steht. Dieser Zusammenhang zwischen Zeichen und dem Bezeichneten entsteht nur durch die Interpretation eines semiotischen Subjektes, d.h. eines Menschen der z.B. einem bestimmten Ausschnitt der Realität ein Zeichen zuordnet. Außerdem ist die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Wirklichkeitsausschnitt, auf den es verweist, einseitig oder "gerichtet". Dies bedeutet ganz konkret, dass zum Beispiel die Bewegung von Blättern für den Wind stehen kann, nicht aber umgekehrt der Wind für eine Bewegung der Blätter (denn das ist höchstens eine Teilfolge des Windes). Was das sprachliche Zeichen angeht, so kann die Laut- bzw. Buchstabenkette STUHL einen realen Stuhl repräsentieren, aber das reale Gebilde aus Holz, Metall usw. mit vier Beinen, einer Sitzfläche und einer Lehne kann natürlich nicht für die Laut-/Schriftform stehen. Der reale Stuhl ist das Bezeichnete, die Laut-/Buchstabenfolge STUHL das Bezeichnende, das Zeichen.

2.2. Index-Ikon-Symbol

Der amerikanische Philosoph und Semiotiker Charles Sanders Peirce ist der Begründer der Semiotik als eigener wissenschaftlicher Disziplin. Eine seiner Erkenntnisse war, dass nicht alle Zeichen in gleicher Beziehung zum Bezeichneten stehen. Er unterscheidet deshalb drei verschieden Typen von Zeichen:

2.2.1. Indexikalische Zeichen (Pl. Indices)

Ein indexikalisches Zeichen ist eine kausale Folge dessen, was es bezeichnet. In diesem Sinne könnte man auch sagen: Es ist ein Teil des Bezeichneten. Beispiele hierfür sind z. B. Rauch als Zeichen für Feuer (das Feuer ist die Ursache des Rauches), die heiße Stirn als Zeichen für Fieber / Krankheit (auch hier besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Fieber und der heißen Stirn), gelbes Laub als Zeichen des Herbstes – etc.

2.2.2. Ikon

Ein ikonographisches Zeichen / Ikon ist ein (stilisiertes) Abbild dessen, wofür es steht; es hat Abbildfunktion. Ein solches Abbild enthält gegebenenfalls nur noch einen stark reduzierten Teil der Informationen des Bezeichneten; da es aber auf einer strukturellen Ähnlichkeit zu diesem Bezeichneten basiert, ist es dennoch erkennbar. Das gilt z. B. für viele Verkehrsschilder: Auf dem "Achtung, unbeschrankter Bahnübergang ! " - Schild ist ein altmodischer Zug auf Gleisen abgebildet; auf dem Schild, das Rad- oder Fußwege als solche ausweist, sind Fahrrad und Fußgänger abgebildet. Auf einem Restaurantschild ist normalerweise ein Messer wiedergegeben, das mit einer Gabel gekreuzt ist.

Wir werden weiter unten sehen, daß es in der Schriftsprache Schriftzeichen gibt, die nichts mit unserem Alphabet und dessen Buchstaben zu tun haben; ich meine Bildschriftzeichen, die ebenfalls ikonographische Zeichen sind.

Hier ein historisches Beispiel für solche Schriftzeichen, - die untenstehende Graphik bildet die Bronzeschrift aus dem chinesischen Mittelalter ab. Jedes Zeichen ist eine stilisierte Abbildung dessen, was es darstellt:

wpeB.jpg (43959 Byte)

2.2.3. Symbol

Das Symbol lässt sich nur negativ beschreiben und kann somit als eine "Papierkorbkategorie" bezeichnet werden. Es hat weder eine Abbildfunktion, noch besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Bezeichneten und dem Zeichen. Ein Symbol ist ein rein willkürliches (arbiträres) Zeichen, das in der Regel mit dem Wirklichkeitsausschnitt, den es abbildet, nichts gemeinsam hat. Beispiele hierfür sind das "Vorfahrtstraße"-Schild oder das "Allgemeine Gefahrenstelle"-Schild: Es gibt keine irgendwie in der realen Erscheinungsform des bezeichneten Sachverhalts liegende Ursache, warum gerade dieses Zeichen und nicht irgendein anderes für die bezeichnete Sache steht; und es gibt in der Regel auch keinerlei Abbildbeziehung (Ausnahmen bei sprachlichen Zeichen später).

Bei Symbolen ist die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem konventionell festgelegt. - Die Symbole bilden die größte und wichtigste Gruppe von Zeichen. Zu ihnen gehören alle sprachlichen Zeichen (auch die gleich unten als Ausnahmen definierten Fälle).

Eine gewisse Ausnahme wären etwa abbildende Bildschriftzeichen, wie sie z.B. die ägyptischen Hiroglyphen ganz am Anfang oder die chinesischen Bildschriftzeichen waren bzw. sind. Einige Sprachwissenschaftler verweisen auch auf die sog. Onomatopoetika, das sind lautmalende Wörter ("Kikerikie", "Ding-Dong", "Wau Wau" etc.). Diese Ausdrücke haben (in Resten) noch abbildende Aspekte. Daß dennoch auch sie ein gutes Stück weit willkürlich sind (und die Abbildqualität nur noch in Resten vorhanden ist), fällt spätestens dann auf, wenn man bedenkt, daß es zwar in den verschiedensten Nationalsprachen lautmalende Ausdrücke für die oben genannten Beispiele gibt, diese aber von Sprache zu Sprache verschieden sind ("Kikerikie" "heißt" auf Englisch z. B. "Cocadodledoo" etc.). Ein weiteres Beispiel für sprachliche Ausdrücke mit einem Rest von ikonoscher Qualität ist der deutsche Plural. In Wörtern wie Haus/Häuser ist die Form des Plurals länger als die des Präsens, und drückt somit indirekt aus, dass es sich hier um "mehr" handelt. Das ist in anderen Pluralformen wie Bruder/Brüder jedoch nicht der Fall. - In Kreolsprachen findet oft eine Doppelung des Wortes im Singular statt, um den Plural auszudrücken.

Es gibt in der modernen Linguistik eine Richtung, die Natürlichkeitstheorie, die solche ‚motivierten‘ Aspekte sprachlicher Zeichen (Abbildqualitäten) zum Gegenstand macht. Solche (im angedeuteten Sinne ‚motivierten‘) sprachlichen Zeichen sind zumindest rezeptiv leichter zu verarbeiten; sie sind – so die Natürlichkeitstheorie – ‚natürlicher‘ als nicht-motivierte bzw. –motivierbare sprachliche Zeichen.

Exkurs: Kausalität ist nicht an Motivationen, Zielvorstellungen usw., kurz an die Intentionen eines handelnden Subjekts gebunden. Ein Schlüssel, den wir von einer höheren Position als Bodenniveau loslassen, wird zwangsläufig auf den Boden fallen. Aufgrund der Schwerkraft kann er nicht anders. - Nur die Ursache von Sachverhalten kann mit einer "Warum"-Frage erfragt werden. Bsp. Der Schlüssel ist auf den Boden gefallen. WARUM? Weil ich ihn losgelassen habe, weil er der Schwerkraft unterworfen ist. Sobald ein handelndes Subjekt involviert ist und eigene Entscheidungen fällt, kann eine Erklärung nur die Antwort auf eine "Wozu"-Frage sein. Bsp. Ein Mann rennt in Richtung Haltestelle. WOZU? Um die Straßenbahn noch zu erreichen. Er hätte genauso die Wahl gehabt, früher loszugehen - oder aber langsam zu schlendern und auf die nächste Verbindung zu warten. – Zeichen (auch ein Index) bekommen ihre Zeichenqualität immer nur von einem semiotischen (nämlich Zeichen-verstehenden) Subjekt; trotz der Kausalität (Index) oder Abbildqualität (Ikon) braucht es zusätzlich das interpretierende, verstehende Subjekt. Bei Symbolen (im Sinne der Semiotik) – und so auch bei einem symbolisch verwendeten Index oder Ikon - gilt zusätzlich, daß hier ein Zeichen als Zeichen intendiert ist. Entsprechend kann ich Symbole bzw. den Gebrauch von Symbolen nicht kausal, sondern nur intentional erklären.

Exkurs 2: Bei den Indianern wurden Rauchzeichen zum Weiterleiten von Nachrichten verwendet. In diesem Falle war der Rauch nicht nur einfach ein Index für Feuer, sondern zugleich wurde er symbolisch – und damit intentional orientiert – eingesetzt.

2.3. Sprachliche Zeichen als Symbole / Zur Konventionalität sprachlicher Zeichen

Sprachliche Zeichen sind unbeschadet gewisser ikonischer Qualitäten generell zunächst einmal Symbole (siehe dazu schon oben).

Wie wir gesehen haben sind Symbole (und symbolisch gebrauchte Indizes und Ikone) konventionell (siehe auch dazu schon weiter oben). Wie aber entstehen solche Konventionen, die z. B. festlegen, daß in einer bestimmten Sprache eine bestimmte Sache durch eine bestimmte Lautkette gekennzeichnet ist? Natürlich nicht durch irgendwelche förmlichen Absprachen, bei denen sich die Sprachbenutzer am runden Tisch auf einen Ausdruck einigen. Lewis hat sich ausführlich mit dieser Frage beschäftigt. Er geht davon aus, daß Konventionen durch sich wechselseitig bestätigende Erwartungen und darauf aufbauende Handlungen entstehen.

In einer Kommunikationssituation verwendet beispielsweise einer der Partner ein dem Anderen unbekanntes Wort. Aus dem Satzzusammenhang kann sich der Andere die Bedeutung jedoch erschließen. Tritt die Verbindung zwischen diesem Zeichen und seiner Bedeutung nun mehrfach auf, so wird der Hörer oder Leser erwarten, daß das immer der Fall ist und über kurz oder lang diesen Begriff ebenfalls verwenden, um jenen Sachverhalt auszudrücken.

2.4. Das sprachliche Zeichen und seine Funktionen (Bühler)

Sprachliche Zeichen haben nun nicht nur – wie das die vorangegangenen Ausführungen nahelegen könnten, die eine Funktion, Welt und Wirklichkeitsausschnitte zu bezeichnen. Sondern wir müssen mit mehreren unterschiedlichen Funktionen rechnen, die in verschiedener Gewichtung grundsätzlich gesehen zugleich relevant sind. Dabei ist die Leistung und Funktion eines sprachlichen Zeichens abhängig von der Gesprächsituation, in der es geäußert wird, sowie dem sozialen Rollenspiel, welches dieser Situation zugrunde liegt.

Ein zentrales Modell, dass sich mit den Funktionen von Sprache befaßt, ist das Organon-Modell (Organon griech. = Werkzeug) von Karl Bühler. Sprache ist danach ein Hilfsmittel, mit dem wir etwas erreichen wollen. Zu einer Kommunikationssituation gehören nach Bühler drei bzw. vier Hauptelemente: ein Sprecher (Sender), ein Hörer (Empfänger) und schließlich die Außenwelt (Referent), auf die sich der Sprecher bezieht.

Nehmen wir als Beispiel die Aussage: "Es wird Winter." Abhängig von der Aussageabsicht des Sprechers kann er sich auf sich selbst beziehen und das Gefühl eines inneren Unbehagens ausdrücken. Das Zeichen ist – so gesehen - emotiv oder expressiv. Möchte der Sprecher dem Zuhörer etwas über einen Gegenstand oder Zustand mitteilen, so verwendet er das sprachliche Zeichen als referentiell. Das würde in diesem Beispiel bedeuten, dass er sich ausschließlich auf den alljährlichen Wechsel der Jahreszeiten bezieht. Eine letzte Möglichkeit wäre es, diese Aussage als Apell an den Empfänger zu interpretieren, nun endlich die Heizung einzuschalten.

Andere Sprachwissenschaftler haben dem sprachlichen Zeichen weitere Funktionen zugeordnet. So wird später noch von Roman Jakobson die Rede sein.

Zu beachten ist bei diesem Modell auch, dass die Zeichenfunktion und die Lautform nicht deckungsgleich sind. Der Bereich in dem der Kreis über das Dreieck hinaus ragt, stellt die sogenannte "abstraktive Relevanz" dar. Im Alltag produzieren wir viel redundante und unnötige Informationen, die herausgefiltert werden können, so dass nur die Aspekte des Zeichens übrig bleiben, die für die Informationsvermittlung wesentlich sind.

Der Bereich in dem das Dreieck über den Kreis hinausragt, steht für die "aperzeptive Ergänzung", auf die wir in so gut wie jeder Kommunikationssituation angewiesen sind. Relativ mühelos ergänzen wir unbewusst all das, was an der wirklich gehörten Äußerung nicht vollständig war. Dies funktioniert aber gewöhnlich nur in der Muttersprache; das Fehlen dieser Fähigkeit macht das Sprachverständnis im Ausland oft recht mühsam.

2.5. Erweiterung des Bühler-Modells durch Jakobson

2.5.1.  Metasprachliche, phatische und ästhetische Funktion

Roman Jakobson war ein russischer Sprachwissenschaftler, der unter Anderem auch das Bühler´sche Organon-Modell ergänzte. Er erkannte, dass in der Kommunikationssituation noch drei weitere Funktionen von Sprache zum tragen kommen. So enthält sein Kommunikationsmodell 6 Funktionen: Die ersten drei Funktionen (apellative, emotive, referentielle) wurden von Bühler übernommen; drei weitere, die metasprachliche, die phatische und die ästhetische Funktion hat er ergänzt.

Eine metasprachliche Äußerung bezieht sich auf die Sprache selbst, den Code. Typische Beispiele für solche metasprachliche Äußerungen wären: "Was hast du denn mit ... gemeint?"; "Das ist doch kein Stuhl! Das ist ein Hocker!"

Steht bei der Kommunikation die Kontaktaufnahme mit dem Gegenüber im Vordergrund, so spricht man von einer phatischen Äußerung. Das wohl eindrücklichste Beispiel für phatische Äußerungen sind Situationen wenn Mütter mit ihrem Säugling sprechen. Das Kind versteht nicht was die Mutter sagt, fühlt sich jedoch durch die Zuwendung der Mutter bestätigt. Ein ähnliches Phänomen findet auch auf Parties statt, wenn pure Floskeln ausgetauscht werden um einen Kontakt mit dem Gegenüber herzustellen.

Wird vor allem auf die Form der Sprache Wert gelegt, so tritt ihr ästhetischer Funktion in den Vordergrund. Dabei hat nicht nur die schöne Literatur das Privileg gepachtet, sich der Sprache künstlerisch zu bemächtigen. Auch in der Werbung finden wir eine bewußte Instrumentalisierung von Sprache. In Werbeslogans werden bewußt Erwartungen des Rezipienten enttäuscht und alltägliche Konventionen gebrochen. So werden die gelieferten Informationen aus dem automatischen Verarbeitungsprozess herausgerissen und bewußt verarbeitet. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Gebrauch von Sprache ist der Slogan: Katzen würden Wiskas kaufen". Zum einen wird sich der Einprägsamkeit von Alliterationen bedient, zum anderen werden wir aber auch mit der Idee vertraut gemacht, dass Katzen, wenn sie es denn könnten, ein bestimmtes Katzenfutter kaufen würden. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als zu sagen: "Herrchen/Frauchen kauft euren Katzen Wiskas"- was ja eigentlich gemeint ist.

2.5.2. Die sechs Funktionen Jakobsons im Überblick

 

Das Jakobson´sche Kommunikationsmodell. (Pelz, 1996, S. 33)

 

Grundsätzlich läßt sich noch bei beiden bekannten Funktionsmodellen von Sprache (Bühler/ Jakobson) die Erkenntnis hervorheben, dass sprachliche Äußerungen in den wenigsten Fällen nur eine Funktion erfüllen. Vielmehr sind prinzipiell alle Funktionen in einer sprachlichen Äußerung vorhanden - jedoch mit unterschiedlichster Gewichtung.

Alfred Lorenzer, ein Psychoanalytiker, hat erkannt, dass es sich bei einer Aussage nie nur um reine Darstellung von Bedeutung handelt, sondern stets auch immer die Emotionalität des Sprechers und ein Appell an den Hörer miteinbezogen werden muss - ein abweichendes Verhalten ist krankhaft!

2.6. Von Peirce zu de Saussure: Das zweiseitige Modell sprachlicher Zeichen

2.6.1. de Saussure als (erster) Kognitivist

Ferdinand De Saussure ist einer der zentralen Figuren in der heute betriebenen Sprachwissenschaft. Dabei hat er nie selbst ein Buch veröffentlicht: De Saussure lehrte zu Beginn des letzten Jahrhunderts an der Universität in Genf und das berühmte Werk "Cours de linguistique générale" entstand durch Mitschriften seiner Studenten, die diese zusammenfaßten und posthum veröffentlichten. De Saussure ist der Begründer der synchronen und der kognitiven Sprachwissenschaft.

Vor De Saussure war vor allem die historische Entwicklung von Sprache erforscht worden (diachronische Sprachwissenschaft). De Saussure hingegen widmet sich der Erforschung von Sprache als System. Er plädierte dafür, sich auf die Erforschung von Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt zu widmen um ihr, zu diesem Zeitpunkt immanentes, System zu erkennen (synchrone Sprachwissenschaft).

De Saussure ist in sofern der erste Kognitivist, als dass er sich bei seinem Zeichenbegriff nicht mehr, wie noch Peirce, damit begnügte, Sprache auf die Benennung der Realität zu reduzieren. Für De Saussure existierten die sprachlichen Zeichen nur im Kopf.

2.6.2. Das zweiseitige Zeichen: Image und concept

Dieses nach De Saussure nur im Kopf existierende Zeichen ist zweiseitig (diadisch): Es setzt sich aus dem image und dem concept zusammen.

Beim image handelt es sich um eine Art abstraktes, mentales Muster oder Schema das es uns erlaubt, unendlich viele verschiedene Ausformungen der sensorischen Realität: eines Schriftzuges, einer Lautform, usw., als identische Wortform zu erkennen. Wir sind in der Lage, die verschiedensten Schriftzüge als gleichwertig einzustufen: Stuhl, stuhl, STUHL, Stuhl , ja sogar einen teilweise verwischten Schriftzug können wir noch entziffern. Jedoch nicht nur das: Wir können auch mit Sicherheit sagen, daß die Schriftzüge Stoll, Strahl, Pool, *Y~:~~\:. ... nicht das gleiche Ding bezeichnen können wie die äußerlich so verschiedenen Varianten der Wortform Stuhl . Dieser im Kopf befindliche Maßstab zur Identifizierung eines passenden Schriftzuges nennt de Saussure das image graphique. Ähnliches gilt für die akustische Wahrnehmung: Wenn verschiedene Personen das Wort "Stuhl" aussprechen, ja sogar jedesmal wenn ein und die selbe Person es ausspricht, klingt das etwas anders. Trotzdem können wir die Lautsequenz jedesmal einwandfrei identifizieren- selbst dann noch, wenn der andere undeutlich spricht oder durch Lärm im Hintergrund teilweise übertönt wird. Auch hier liegt also offenbar im Kopf ein Muster vor, mit Hilfe dessen die konkrete, physikalisch-materielle Lautkette analysiert und identifiziert wird: das image acoustique oder image phonigue. Dieses image ist also die eine Seite des de Saussure´schen Zeichens. Es ist auf die sprachliche Realität (das Bezeichnende) ausgerichtet.

Auf der anderen Seite besitzen wir aber auch eine abstrakte mentale Merkmalsmatrix, das concept, welches es uns erlaubt, Gegenstände/die Welt (das Bezeichnete) zu klassifizieren: Wir sind in der Lage jeden x-beliebigen Stuhl als genau dieses Möbelstück zu erkennen - egal, ob er aus Holz, Metall oder einem anderen Material ist, ob seine Lehne abgerundet oder eckig ist, ob er braun, weiß, rot oder bunt ist, ob er vier Beine hat oder auf fünf Rollen fährt, usw.. All diese verschiedenen Stühle sind mindestens so verschieden wie die oben beschriebenen Schriftzüge. Trotzdem können wir sie eindeutig identifizieren und von einem Tisch, Bett, Schlüsselbund, usw. mühelos unterscheiden.

2.6.3. Reziproke Evokation

Image oder concept alleine sind jedoch an sich noch kein sprachliches Zeichen. Erst durch ihre Verschaltung gewinnen sie Bedeutung und werden so zum sprachlichen Zeichen. Diese Verschaltung wird als reziproke Evokation bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein automatisches sich–gegenseitig-hervorufen. Ich kann nicht den Schriftzug ,,Stuhl" lesen, ohne sofort außer dem image graphique auch das concept des Stuhls parat zu haben, und anders herum. Die Verschaltung von concept und image ist nur intersubjektiv erklärbar: unbewußt spielen sich die Sprecher einer Gemeinschaft auf eine gemeinsame sprachliche Strukturierung der Realität ein (Konvention).

(1)

die schriftsprachliche / lautsprachliche Realität

(ein konkreter Schriftzug, eine reale Lautsequenz)

                                                                                              

(2) image

acoustique/phonique bzw. graphique

 

(3) concept

 

 

die Objektrealität

(ein realer Stuhl)

(4)

Es gibt  nur ein 'concept´-System, aber (mindestens) zwei 'image'-Systeme (bei einem schriftkundigen Menschen; wenn man zwischen Produktion (etwa von Schrift) und Rezeption noch unterscheidet, dann gibt es bei einem schriftkundigen Menschen sogar vier image pro concept. Wenn jemand zusätzlich noch die Blindenschrift beherrscht, gibt es auch noch ein ,,taktiles image".

Nach der Unitarismus-Vorstellung sind diese images mit denselben Konzepten verbunden, die wir auch jenseits von Sprache z.B. im Rahmen einer Identifikation unserer Umwelt verwenden.

 

3. Exkurs: Neurolinguistische (und neurobiologische) Querverbindungen

Wie funktioniert das aber (auf die akustische Wahrnehmung bezogen!) konkret, d.h. ,,biologisch"?

3.1. Hören  und (nach)sprechen

 

Übertragungsformen des Schalles (vgl. Silbernagl 1991, S.319)

 

1. Die Luftdruckschwankungen ("Schallwellen") gelangen durch den Gehörgang an das Trommelfell.

2. Die Bewegung des Trommelfells (mechanische Schwingungen) setzt im Mittelohr die Gehörknöchelchen (Hammer, Amboß, Steigbügel) in Bewegung (mechanische Übertragung). Da diese Knöchelchen wie eine Hebelkonstruktion funktionieren, wird der Druck hier noch verstärkt

3. Die Bewegung der Gehörknöchelchen versetzt eine weitere Membran, das ovale Fenster, welche das Innenohr abschließt, in Schwingung. Diese Schwingung überträgt sich auf die Innenohrflüssigkeit.

4. Das Innenohr besteht aus drei spiralförmig ineinander gerollten Schläuchen (ebenfalls Membranen) und wird deswegen auch als Gehörschnecke (Cochlea) bezeichnet. Durch die Schwingung des ovalen Fensters wird die Innenohrflüssigkeit komprimiert und dekomprimiert. Es läuft eine sogenannte "Wanderwelle" durch die Cochlea. Im mittleren Schlauch, der Scala Media, sitzen feine Sinneshärchen, die nach dem ,,Seegrasprinzip" durch die Bewegung der Flüssigkeit ebenfalls bewegt werden (mechanische Auslenkung). Da diese Schläuch inonenhaltige Flüssigkeit enthalten und ein Spannungsverhältnis mit den Haarzellen besteht, laufen in der Cochlea bio-chemische Prozesse ab. Elektrische Impulse entstehen.

5. Am unteren Ende der Sinneshärchen sind Nervenfasern ,,angeschlossen"; das Abknicken der Sinneshärchen führt zu der Öffnung von Ionen-Kanälen. Elektrische Impulse laufen über die Nervenfasern - über die verschiedenen Schaltstationen der Hörbahn und den Hirnstamm - zum Gehirn, hier zum

6. ... primären Hörzentrum. Hier werden die eingehenden akustischen Muster ihrer auditiven Form nach erkannt.

7. In den sekundären auditiven Gebieten (auditive Assoziationsgebiete) erfolgt eine Mustererkennung durch Abgleich und schließlich die Interpretation der Bedeutung dieser Muster.

8. Beim Nachsprechen werden die auditiven Informationen an die sekundäre motorische Hirnrinde weitergeleitet. Für die Produktion von Sprache betrifft das die Broca-Region.

9. Von der Broca-Region werden nun Impulse an die primär motorischen Gebiete gesendet. - In der Broca-Region sind nicht nur einzelne Teilbewegungen der Artikulatorik, sondern ganzheitlich komplexe Bewegungsfolgen gewissermaßen gespeichert.

10. Diese Bewegungsfolgen werden dann den artikulatorische Organen "befohlen". Die beim nicht-Sprechen regelmäßig ausgestoßene Luft wird abgelenkt.

11. Es entstehen regelmäßige und unregelmäßige Luftdruckschwankungen.

Exkurs: Ganz so leicht läuft dieser Prozeß in einer Fremdsprache jedoch nicht ab. Wir müssen erst einmal lernen, die distinktiven (bedeutungsunterscheidenden) Laute der Fremdsprache zu hören bzw. als solche zu erkennen. Langsam müssen wir ein neues image aufbauen und musterhaft abspeichern. Gleichzeitig müssen wir lernen, unsere Muskulatur in einer ungewohnten Reihenfolge zu bewegen, um die neue Sprache auch zu sprechen.

3.2. Zur funktionalen Architektur des Gehirns

Das menschliche Gehirn besteht aus zwei Hälften, die durch das corpus callosum miteinander verbunden sind. Während sich manche Aufgaben primär unilateral (mit einer Hirnhälfte) bewältigen lassen (wie zum Beispiel die Sprache in der Regel mit der linken Hirnhälfte oder die visuell-räumliche Erkennung von Objekten mit der rechten Gehirnhälfte), ist für das Lesen ein Zusammenwirken beider Gehirnhälften von Nöten. Koodinationsstörungen können die Ursache für Lese- und Rechtschreibestörungen sein.

Die sensorische und motorische Peripherie ist mit dem Gehirn kreuzverschaltet; d.h. die rechte Gehirnhälfte ist primär für die Bewegung zum Beispiel des linken Fußes verantwortlich. Bei den meisten Menschen ist die linke Hälfte (die sogenannte linke Hemisphere) des Großhirns (Cortex) sprachdominant. Hier befinden sich die – mehr oder weniger klar umgrenzten – sensorischen (vereinfacht: "für das Sprachverstehen zuständigen") und motorischen (vereinfacht: "für die Sprachproduktion zuständigen") Sprachregionen.

Sicherlich nicht zufällig befindet sich die Region, die für die Sprechmotorik zuständig ist, in der selben Hemisphäre wie die Region, welche für die Feinmotorik der Hände und Füße zuständig ist - ist doch die artikulatorische Motorik die bei weitem komplizierteste motorische Leistung, die Menschen vollbringen.

Außer dem "Corpus Callosum" oder "Balken", der linke und rechte Hirnhälfte miteinander verbindet, besteht auch noch eine Verbindung zwischen den sensorischen Sprachregionen (die etwa für die Verarbeitung beim Hören und Lesen zuständig sind) und den motorischen Sprachregionen (die u.a. für die motorisch-artikulatorische Steuerung beim Sprechen zuständig sind). Diese Verbindung (der "fasciculus arcuatus") befähigt uns, direkt nachzusprechen und dabei auch sinnlose Lautketten, die man gar nicht 'verstehen' kann, nachzusprechen.

Die für die Sprache relevanten Bereiche des Gehirns und deren Funktionen lassen sich der folgenden Graphik entnehmen:

 

4. Lautlehre

4.1. Hintergründe

4.1.1. Zur Erinnerung

Frage: "Wie kommt es zum Schallereignis? Was verursacht das Erklingen eines Lautes?" Antwort: Geordnete Bewegungsabläufe des artikulatorischen Apparates:
 
 

sekundär motorischer Cortex

hier sind die hochkomplexen Impulsmuster für die Artikulation der einzelnen Laute gespeichert

¯

primär motorischer Cortrex

... über Nervenfasern werden elektrische Signale an die Muskeln geschickt

¯

Bewegungsverläufe des artikulatorischen Apparates

d. h. Bewegungen der Muskeln, die sich "vergiftungsbedingt" kontrahieren: die elektrischen Signale der Nerven verursachen die Ausschüttung chemischer Botenstoffe an den Nervenenden (= Synapsen)

¯

Schallereignisse

(= Luftdruckschwankungen)

 

4.1.2. Lautspracherwerb

Das kleine Kind brabbelt fortwährend Laute vor sich hin, zunächst völlig willkürlich und buchstäblich was der Artikulationsapparat hergibt – also alles irgend mögliche! D. h. konkret: Alle Laute, die der menschliche Lautapparat hervorzubringen vermag, werden vom Kleinkind zu Beginn des Spracherwerbs irgendwann auch tatsächlich "ausprobiert", auch Laute, die in der Muttersprache gar nicht vorkommen.

Diese willkürlichen Bewegungen (Motorik) werden zwangsläufig durch verschiedene Sensorzellen (Sensorik) wahrgenommen

- durch intramuskuläre Sensorzellen (also im jeweiligen Muskel gelegen)                                 
- durch extramuskuläre Sensorzellen (also an der Oberfläche des Muskels liegend)

- und natürlich akustisch, d. h. Wahrnehmung des außerkörperliche Geschehens durch das Ohr (kurz: Außenkörper)

Die motorischen Aktivitäten werden also auf verschiedenen Wegen an das sensorische Zentrum rückgemeldet. Das wiederholte Wahrnehmen des gleichen Lautes hinterlässt hier jedesmal Spuren, die allmählich Muster bilden. Das Kind entwickelt so nach und nach spezifische sensorische und - gekoppelt damit - motorische Muster für buchstäblich alle möglichen Laute (senso-motorische Muster).

Erst wenn eine gewisse Differenziertheit der senso-motorischen Muster erreicht ist, beginnt das Kind, von anderen Lauteindrücken als den selbst produzierten – also der von den Eltern produzierten Sprache – zu profitieren: Es erkennt diese anderen Sprachlaute nun mittels der senso-motorischen Muster, die es ausgebildet hat (und das heißt immer auch, daß das Kind in der Lage ist, solche Laute motorisch-produktiv nachzumachen)

Durch die elterlliche (oder sonstige) Umgebungssprache werden spezifische senso-motorische Muster verstärkt. Das Kind produziert ab jetzt auch selbst nur noch die Laute der Muttersprache, also die die es hört.

Jetzt erst beginnt der eigentliche Lautspacherwerb; und er vollzieht sich rasend schnell bzw. ist binnen weniger Monate abgeschlossen. Das ist nur möglich, weil es sich ja letztlich nicht um einen Lernprozeß sondern um einen Selektions- und   "Verlernprozeß" handelt: Das Kind verlernt ab jetzt nur noch all die Laute (senso-motorische Muster), die es für "seine" Sprache nicht braucht. Mit ca. sieben bis acht Jahren sind die nicht benötigten Muster gelöscht; bis dahin ist ein Kind z. B. relativ problemlos in der Lage, eine zweite oder auch dritte Sprache parallel (zusätzlich)  zu erlernen.

Das Kind erlernt von den Lauten der Muttersprache zunächst diejenigen, die am deutlichsten zueinander in Opposition stehen, d. h. den deutlichsten Gegensatz im äußerlichen Erscheinungsbild darstellen: "Mund auf" vs. "Mund zu" – "a" vs. "m" oder "p". Dies gilt überall auf der Welt. (Das weitverbreitete "Mama!" entspringt also nicht der übergroßen Liebe des Kindes zu seiner Mutter sondern den Notwendigkeiten des Spracherwerbs.) Noam Chomsky vermutet hinter dem gesamten Spracherwerb ausschließlich Reifungsprozesse (nativistische Theorie): Die Sprache ist im Prinzip komplett angelegt und reift allmählich. Für den Erwerb der Sprachlaute mag das weitgehend zutreffen, Chomsky weitet diese Theorie jedoch auf die gesamte Sprache, also z. B. auch auf die Grammatik aus.

4.2. Phonetik

4.2.1. Unterteilungen

Die Phonetik ist die Lehre von den Sprechlauten. Man unterscheidet drei verschiedene Arten von Phonetik:

- auditive Phonetik: "Wie funktioniert die Lautwahrnehmung?" – Relevant z. B. bei der Problematik der Mensch-Maschine-Interaktion, also z. B. der direkten Verarbeitung gesprochener menschlicher Sprache durch den Computer, sowie in der klinischen Linguistik, etwa für die Entwicklung der Cochlea-Implantate usw.

- akustische Phonetik: "Wie funktioniert die Schallübertragung?"

- artikulatorische Phonetik: "Wie funktioniert die Hervorbringung von Sprachlauten?" –  Diese letztere ist es auch, die uns im Folgenden nahezu ausschließlich beschäftigen wird.
 

4.2.2. Die Konsonanten der deutschen Sprache

Bei der Beschreibung der artikulatorischen Bewegungen unterscheiden wir einerseits zwischen dem spezifischen Ort im Mund-Rachen-Bereich, an dem eine bestimmte Lautbildung erfolgt, und andererseits der Art und Weise der Lautbildung (das meint die beteiligten artikulatorischen Teilbewegungen und ihr Zusammenspiel bei der Artikulation eines Lautes.

Was den Artikulationsort angeht, so unterscheiden wir 

bilabial: 'mit beiden Lippen'; Lippenlaut (im Deutschen nur durch Lippenschluß, als Plosiv oder Nasal (das meint die Art der Artikulation - vgl. dazu gleich folgend; einen Lippen-Reibelaut (Frikativ) gibt es nicht!)

labiodental: der Laut wird mit der (Unter-)lippe und den (oberen) Schneidezähnen gebildet (im Standarddeutschen nur Engelaute bzw. Frikative)

alveolar: Verschluß bzw. Enge/Frikativ wird mit der Zungenspitze (deshalb eigentlich ein apiko-alveolarer Laut) an den Zahnfleischtaschen (an den 'Alveolen') oben gebildet. - In Sprachen wie dem Englischen werden die entsprechenden Laute standardmäßig wohl an der Rückseite der oberen Schneidezähne gebildet, - wir sprechen dann auch von apiko-dentalen Lauten.

präpalatal: der Laut wird (mit dem Zungenrücken) am vorderen Teil d. harten Gaumens ('Palatum') gebildet

mediopalatal: Lautbildung mit dem Zungenrücken am mittleren Teil des harten Gaumen.

velar:  der Laut wird am weichen Gaumen gebildet

laryngal: der Laut wird mit Hilfe der Stimmlippen im Kehlkopf gebildet (Stimmlippen - Stimmritze = Larynx); dazu unten noch einige erweiternde Hinweise.
 
 

Artikulationsart:

Verschlußlaut auch: Plosiv, Explosiv. Der Laut entsteht, indem bestimmte Sprechwerkzeuge (Lippen, Zunge-Alveolen, Zunge-Gaumen...) einen Verschluß bilden, d. h. sie stoppen den Luftstrom komplett und hindern ihn am Austreten. Der Luftdruck hinter dem Verschluß steigt immer weiter an (da die Atemluft ja weiterströmt); kurz bevor der Verschluß durch den zu hohen Luftdruck "gesprengt" würde, wird er willentlich geöffnet, und die angestaute Luft strömt "explosionsartig" aus.

Reibelaut auch: Engelaut, Frikativ. Der Laut entsteht, indem bestimmte Sprechwerkzeuge einen engen (horizontalen) Spalt bilden, der den Luftstrom beim Austreten behindert: Hinter der Verengung wird er zunächst abgebremst, es entstehen Verwirbelungen der Luft, und sie strömt beschleunigt durch den engen Spalt aus.

Affrikate sozusagen "zerstörte Verschlußlaute". Der Laut entsteht, indem wie bei den Plosiven ein Verschluß gebildet wird, der dann durch den steigenden Luftstrom gesprengt wird, so daß zunächst ein ganzer Schwall, dann ein kontinuierlicher Strom von Luft ausströmt. Vermutlich sind die Affrikaten tatsächlich aus zunächst nicht willentlich geöffneten Plosiven entstanden, wurden dann aber in das Lautinventar der deutschen Sprache übernommen (müßte ein gutes Beispiel für die Entstehung von Konventionen sein...)

Nasal Der Laut entsteht, indem zunächst ein Verschluß gebildet wird, der dann durch Senken des Gaumensegels geöffnet wird, so daß die Luft durch die Nase ausströmt, während der Mundraum durch die Sprechwerkzeuge weitgehend nach außen abgeschlossen ist. (Durch willentliche kontinuierliche Hebung des Gaumensegels – also dauerndem Verschluß des Nasenraumes – kann man den sog. "Schnupfenton" erzeugen.)

fortis die Luft strömt mit großem Druck aus

lenis die Luft strömt mit geringem Druck aus

stimmhaft Stimmlippen liegen eng aneinander an, so daß sie durch die ausströmende Atemluft in Schwingung versetzt werden. Dieses Vibrieren erzeugt den Ton.

stimmlos Stimmlippen geöffnet, die Atemluft strömt ungehindert durch den Kehlkopf.


in den eckigen Klammern [] : Lautschriftzeichen API (Association Phonetique Internationale)
 
 
 
 

Vokabeln:

labies Lippen

dentes Zähne

alveolen Zahnfleischtaschen

palatum harter Gaumen

velum weicher Gaumen, auch: Gaumensegel

apex Zungenspitze

glottis Stimmritze (gebildet durch die Stimmlippen)

Stimmlippen gemeinhin fälschlich als Stimmbänder bezeichnet. Zwei Hautfalten, im Kehlkopf gelegen, die willentlich geöffnet oder geschlossen werden können und so die Laute stimmlos bzw. stimmhaft werden lassen.
 
 

In diesem Schema fehlt bislang das "l". Dieser Laut nimmt im deutschen Lautsystem eine Sonderstellung ein. Artikulatgionsart: "Lateral" oder "Liquid". Am ehesten einem Reibelaut vergleichbar – wobei der enge Spalt hier senkrecht durch die Zunge gebildet wird und die Luft links und rechts an der Zunge vorbei strömt.
 
 
 

 

 

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Alte Fassung:

 

1. Block: *

 

1.1 Allgemeines *

1.1.2 Organisatorisches: *

1.1.2 Einleitung: *

1.1.3 Seminarüberblick: *

1.2 Neuer Stoff - Semiotik *

1.2.1 Einstieg in die Semiotik *

1.2.2 Definition des Begriffs "Zeichen" *

1.2.3 Index – Ikon – Symbol *

1.2.4 Entstehung von Konventionen *

2. Block *

2.1 Wiederholung *

2.2 Neuer Stoff – kognitivistische Semiotk: De Saussure / Strukturalismus *

2.2.1 Einstieg in den kognitivistischen Bereich der Sprachwissenschaft:*

2.2.2 Beginn der kognitivistischen Sprachwissenschaft / F. de Saussure *

2.2.3 Das de Saussur´sche Zeichenmodell *

2.2.4 Die Biologie *

3. Block *

3.1 Wiederholung *

3.2 Neuer Stoff – Phonetik *

3.2.1 Einstieg in die Phonetik *

3.2.2 Phonetik *

4. Block *

4.1 Wiederholung *

4.2 Neuer Stoff: Phonetik / Kurzreferate *

4.2.1 Die Vokale des Deutschen *

4.2.2 1. Exkurs: "Lautspracherwerb nach Jakobson" *

4.2.3 2. Exkurs: Sprachpathologien *

5. Block *

5.1 Wiederholung *

5.2 Neuer Stoff: Von der Phonetik zur Phonologie zur Morphologie *

5.2.1 Sonorität / Sonoritätsskala: *

5.2.2 Minimalpaare *

5.2.3 Phon – Phonem - Allophon *

5.2.4 Kombinatorische Allophone – frei wählbare Allophone*

5.2.5 Phonetik - Phonologie *

5.2.6 Saussure und die Phonetik / Phonologie *

5.2.7 Phonologie + Morphologie *

5.2.8 Morph, Morphem und Allomorph *

5.2.9 Kombinatorische und frei wählbare Allomorphe*

5.2.10 Grammatische und lexikalische Morpheme *

5.2.11 double articulation (André Martinet) *

5.2.12 Anhang: Die paradigmatische und die syntagmatische Ebene *
 

6. Block *

 
6.1 Wiederholung *

6.2 Neuer Stoff: Vertiefung Morphologie / Einstieg in die Syntax *

6.2.1 Vertiefung Morphologie *

6.2.2 Einstieg in die Syntax *

6.2.3 Nichtsegmentale Ausdrucksweise *

6.2.4 Substitutionstest *

6.2.5 Kommutationstest oder Permutationstest *

6.2.6 Ein Stammbaum *

6.2.7 Konstituenten-Struktur-Grammatik und IC-Analyse*

6.2.8 Teil-Ganzes-Beziehung – Teil-Teil-Beziehung *

6.2.9 Valenz-Dependenz-Grammatik *


7. Block *

 
7.1 Wiederholung *

7.2 Neuer Stoff *

7.2.1 Vertiefung Valenzgrammatik *

7.2.2 Aktanten und Zirkumstanten (Tesnier) *

7.2.3 fakultative und obligatorische Aktanten *

7.2.4 Lesarten eines Verbs *

7.2.5 Sonderfall "Zwangsplural" *

7.2.6 Nullwertige Verben *

7.2.7 Die Valenzen der deutschen Verben. *

7.2.8 Semantische Rollen (Fillmore) *

7.2.9 Diathese... *

7.2.10 ...und was bewirkt sie? *


8. Block *

 
8.1 Das Levelt-Modell *


9. Block *

 
9.1 Klausur: "Diathese?" *

9.2 Referate *

9.2.1 Der Genitiv *

9.2.2 Wozu Syntax? *

9.2.3 Assoziative Entgleisungen bei Schizophrenie *


10. Block *

 
10.1 Wiederholung: Levelt-Modell *

10.2 Neuer Stoff: Lexikalische Semantik / Semantische Syntax *

10.2.1 Die Inhaltsseite des Leveltschen Lexikon (lemmas)*

10.2.2 Wortfeldtheorie *

10.2.3 intentionale Bedeutungsbeschreibung *

10.2.4 extentionale Bedeutungsbeschreibung *

10.2.5 Das Kommunikationsmodell (Organon-Modell) von Bühler*


11. Block *

 
11.1 Wiederholung: Levelts Lexikon *

11.2 Neuer Stoff / Vertiefung *

11.2.1 Extentionale vs. intentionale Bedeutungsbeschreibung*

11.2.2 Metasprachliche Ebene – Objektsprachliche Ebene und extentionale Bedeutungsbeschreibung *

11.2.3 Mögliche-Welten-Semantik *

11.2.4 "Bedeuten" vs. "meinen" *

11.2.5 Semantik vs. Pragmatik *
 


      1. Die Konsonanten der deutschen Sprache

 

4. Block

4.1 Wiederholung

Phonetik? Drei Arten, die allesamt eigentlich nicht primär linguistische Disziplinen sind:

- Akustische Phonetik: eigentlich Physik ...

- Auditive Phonetik: eigentlich Biologie ...

- Artikulatorische Phon.: eigentlich Biologie, aber auch Philologie (und

damit für uns v. a. von Interesse...: z. B. wichtig

für Fremdsprachenunterricht, Therapie von

Sprachstörungen...)

Lautbildung? im Wesentlichen zwei Artikulationsarten: Explosiv (Verschluß) / Frikativ (Reibelaut)

Frikativ? Auch: Reibelaut, Engelaut. Artikulatoren bilden einen unvollständigen Verschluß, einen schmalen Spalt, durch den der kontinuierlich fließende Luftstrom hindurch muß; dadurch entstehen Verwirbelungen, und die Durchflußgeschwindigkeit wird beschleunigt; so entsteht der spezifische Laut.

Explosiv? Auch: Verschußlaut, Plosiv. Artikulatoren bilden einen vollständigen Verschluß, der dann willkürlich geöffnet wird, kurz bevor der Verschluß durch den stärker werdenden Luftdruck zerstört würde. Er wird also in drei Phasen gebildet:
1. Schließen (Artikulatoren bilden den Verschluß)
2. Luftstau (Atemluftstrom fließt weiter, staut sich hinter dem Verschluß)
3. Öffnen (Verschluß wird willkürlich geöffnet)

Affrikate? Sonderform, Abart, Abwandlung des Plosiv!!! Gewissermaßen ein "kaputt gegangener" Verschluß, der dann in einen Reibelaut übergeht.

Nasal? Noch eine Sonderform, Abart, Abwandlung des Plosiv!!! Während beim Plosiv sowohl Mund- als auch Nasenraum verschlossen sind (ersterer durch diverse Artikulatoren, letzterer durch Heben des Gaumensegels), und dann beide gleichzeitig geöffnet werden – wie auch ansonsten beim Sprechen die Luft gleichzeitig durch Mund und Nase ausströmt -, wird beim Nasal der Mund verschlossen wie beim Plosiv, das Gaumensegel senkt sich jedoch, so daß die Luft nur durch die Nase ausströmt.

Die Artikulationsorte (im Deutschen):

bilabial? Verschlüsse ([p] / [b]), Affrikate ([pf]), Nasal ([m])

labiodental? Frikativ ([f], [v])

alveolar? Verschlüsse ([t], [d]), Affrikate ([ts]), Nasal ([n]), Frikativ ([s], [z])


4.2 Neuer Stoff: Phonetik

(im Seminar folgten hier zunächst zwei Kurzreferate, die ich aber aufgrund des inhaltlichen Zusammenhangs erst nach den Vokalen abhandeln werde)

4.2.1 Die Vokale des Deutschen

Was unterscheidet Vokale grundsätzlich von Konsonanten?

Konsonanten - sind stets auch Geräusche, d. h. unregelmäßige Schwankungen d. Luftdrucks

- können stimmhaft (dann sind sie gleichzeitig Töne und Geräusche) oder
stimmlos sein (dann sind sie nur Geräusche).

- werden gebildet, indem diverse Artikulatoren ein Hindernis bilden, welches
den Luftstrom zunächst abbremst, bevor er es beschleunigt passiert.

Vokale - sind immer Töne, d. h. die Stimmlippen sind auf Stimmstellung und werden durch die Atemluft in regelmäßige Schwingungen versetzt; Töne sind also regelmäßige Luftdruckschwankungen, welche durch die Stimmlippen entstehen.

- die Artikulatoren bilden keine wirklichen Hindernisse, sie variieren nur ge-
meinsam mit dem Öffnungsgrad des Unterkiefers den Resonanzraum im
Mund-Nasen-Bereich und damit den Ton. Der Luftstrom wird hierbei nicht ab-
gebremst!


Im Gegensatz zu den meisten Phonetik-Standardwerken sprechen wir nicht vom Diphtong, sondern von sog. "Gleitvokalen", da diese Laute entstehen, indem man schnell von der Artikulationsposition des ersten Vokals in die Nähe der Artikulationsposition eines zweiten Vokals (nicht ganz bis in diese Position) "gleitet": Der Luftstrom setzt während des Positionswechsels nicht aus.

Beim schnellen Sprechen verschwindet der Schwa-Laut am Wortende häufig zugunsten einer etwas verstärkten Stimmhaftigkeit des [n]. Auf dies Weise kann es im Deutschen zu Konsonantenclustern von bis zu sechs Konsonanten kommen; eine Konsonantenhäufung, die sich ansonsten nur noch im Arabischen findet...

4.2.2 1. Exkurs: "Lautspracherwerb nach Jakobson"

Jakobson: Russischer Sprach- und Literaturwissenschaftler, zunächst in Moskau tätig. In den 20er Jahren zog er nach Prag (Prager Schule, Prager Strukturalismus). Nachdem die Nazis die Tschechoslowakei "annektierten", floh er nach Paris, später nach Amerika. In den 50ern kehrte er nach Paris zurück.

In den 40er Jahren erforschte er die Reihenfolge des Erwerbs der einzelnen Sprachlaute. Er kam zu der Erkenntnis, daß nicht der Schwierigkeitsgrad der einzelnen Laute in erster Linie über die Erwerbsreihenfolge entscheidet: Entscheidend ist, wie gut der Laut von den Mund-Lippenbewegungen (z. B. der Eltern) abgeschaut werden kann; d. h. also: je offensichtlicher die Bildung eines Lautes ist, um so früher wird er erworben.
 
 

Dementsprechend sind die ersten Sprachlaute die mit der offensichtlichsten Opposition:

1. Gegensatz: auf - zu

[a] (1. Vokal) vs. [p] oder [m] (selten [t]) (1. Konsonant)

2. Gegensatz: nasal - oral

[m] vs. [p] (je nachdem, welcher der beiden mit dem 1. Gegensatz
erworben wurde, folgt nun der andere. Dieser Schritt
folgt erst, wenn das Kind mit den zwei verschiedenen
Lauten auch zwei verschiedene "Dinge" (z. B. "Mama!"
im Unterschied zu "Papa!", und nicht einfach "Bezugs-
person!" meinen kann.)

3. Gegensatz: labial - dental (bzw. bei uns: alveolar)

[p] vs. [t] oder / und [n]

Dieses Cluster – p, t, m, n – bezeichnet Jakobson als den sog. "Minimalen Konsonantismus": Diese Laute erwirbt das Kind zuerst, und auch in der historischen Entwicklung der menschlichen Sprache standen sie wohl am Anfang – dafür spricht, daß es weltweit keine Sprache gibt, die diese Laute nicht kennt!

4. Gegensatz: breit - eng

[a] / [ä ]         [i]

[a] und [ä ] können zunächst gleichzeitig vorhanden sein und beliebig oder kombinatorisch (d. h. abhängig von der Lautumgebung) produziert werden. Wenn diese Unterscheidung eindeutig möglich ist, wird das [i] gelernt.

5. Gegensatz: palatal - velar

[i] vs. [u]

Dieses Cluster – a, i, u – bezeichnet Jakobson als "Minimalen Vokalismus" (vgl. oben!)

Wenn diese Gegensätze erworben wurden, folgen nach und nach die übrigen Laute. Für diese gibt es keine feste Reihenfolge mehr. Es gelten jedoch einige Gesetzte:

1. Gesetz der einseitigen Fundierung: "Bevor ein bestimmter Laut erworben werden kann, muß ein bestimmter anderer vorhanden sein." – Und zwar müssen immer zuerst die Extreme vorhanden sein, bevor deren Abstufungen erscheinen können, also:

- Verschlußlaut ([p] / [t]...) vor dem entsprechenden Engelaut ([f], [s]...)

- vorderer Konsonant ([p], [t]...) vor hinterem Konsonant ([k]...)

- Engelaut ([f], [s]...) vor Affrikate ([pf], [ts]...)

- Oralvokale (im Deutschen nur solche vorhanden) vor Nasalvokalen (z. B. im Französischen)

Dies gilt entsprechend auch immer für Sprachsysteme! Es gibt also z. B. durchaus Sprachen, die zwar Engelaute kennen, aber keine Affrikaten, aber nicht umgekehrt!!! Nasalvokale sind z. B. auch nur in wenigen Sprachen vorhanden.

Zur Erinnerung: Das Kind entwickelt zunächst Muster (sensorische und motorische) für buchstäblich alle möglichen Laute. Anhand dieser Muster beginnt es dann, Laute die es hört zu identifizieren ("Welche Bewegung hat den Laut ausgelöst?") und zu imitieren; auf diese Stufe bezieht sich Jakobsons Theorie: Wenn es hier also heißt, das Kind erwerbe erst diesen, dann jenen Laut, so ist damit nicht gemeint, daß das Kind den Laut im eigentlichen Sinne des Wortes lernt (den kann es längst!) – es lernt nur, die Laute, bzw. noch genauer und gut strukturalistisch: die Unterschiede zwischen ihnen sensorisch zu identifizieren, wobei es die größtmöglichen Unterschiede zuerst identifiziert.

  1. das "Gesetz der gleichen Abstände": Wenn das Kind zu zwei in Opposition liegenden Lauten einen dritten, dazwischen liegenden hinzunimmt, so lokalisiert es diesen genau in der Mitte der beiden vorangegangenen Laute. Kommt nun noch ein vierter Laut auf dieser Ebene hinzu, wird das ganze Schema neu organisiert: die beiden zwischen den absoluten Oppositionen liegenden Laute "dritteln" gewissermaßen die Strecke dazwischen.

Anmerkungen zum Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit:

Da dem eigentlichen Spracherwerb ja immer ein Phase vorgeschaltet ist, in der das Kind alle möglichen Laute ausprobiert und beim eigentlichen Spracherwerb nur noch die nicht benötigten Laute verlernt werden, bedeutet Mehrsprachigkeit keineswegs eine Überforderung des Kindes. Es muß nur ein Mehr an Differenzierung bewahren (wenn die beiden Sprachen zusammen ein größeres Lautinventar haben als die einzelnen Sprachen) bzw. weniger vergessen. Das Problem beim gleichzeitigen Erwerb mehrerer Sprachen ist allenfalls die Bewahrung einer sauberen Trennung zwischen den einzelnen Sprachsystemen. Diesem Problem kann man begegnen, indem man die einzelnen Sprachen strikt nach äußeren Gegebenheiten trennt, also z. B. nach Personen (Mama = Englisch, Papa = Deutsch o. ä...) oder nach sozialen Räumen (Familie = Französisch, Kindergarten / Spielgefährten = Arabisch...) usw.

4.2.3 2. Exkurs: Sprachpathologien

Definition Aphasien: Erworbene (also nicht angeborene und nicht allmählich durch Abbauprozesse entstandene) Sprachstörungen als Folge einer Schädigung des zentralen Nervensystems.

Begriffsklärung "Zentrales Nervensystem": Platt gesagt: Zum zentralen Nervensystem gehören alle nicht peripheren Systeme (wer hätt´s gedacht...). Periphere Systeme sind z. B. die Zentren für die Wahrnehmungen der einzelnen Sinnesorgane: Visuelles, akustisches, taktiles, olfaktorisches Wahrnehmen – hierfür gibt es einzelne, jeweils klar umgrenzte Zentren im Gehirn. Zentrale Prozesse dagegen – wie z. B. die Sprache – sind nicht zentriert, d. h. auf bestimmte Regionen beschränkt.

Aphasien betreffen sowohl rezeptive wie produktive Prozesse (also sowohl das Sprachverständnis als auch das Sprechen) in sämtlichen Modalitäten (Lesen, Schreiben, Hören, Sprechen...) und auf allen Ebenen (Phonologie, Lexikon, Syntax, Semantik).

Die Ursachen für Aphasien sind v. a. Schlaganfälle (d. h. im Blut bildet sich ein Gerinsel, dieses setzt sich in einem Blutgefäß im Gehirn fest und verstopft dieses, so daß die Region, die durch dieses Gefäß versorgt wird, nicht mehr durchblutet ist; das hat fatale Folgen, da Nervenzellen weder Sauerstoff noch Nährstoffe speichern können und nach ca. sieben Minuten ohne Versorgung absterben; außerdem wachsen sie im Gegensatz zu anderen Zellen nicht nach wenn sie abgestorben sind, sie sind also unwiederbringlich verloren.).

Andere Ursachen können sein: Verletzungen (z. B. durch Unfall), Krankheiten (v. a. entzündliche Prozesse), Tumoren und andere sog. raumfordernde Prozesse (ein Tumor verdrängt zunächst das Nervengewebe, quetscht es zusammen und behindert so die Durchblutung, ggf. kann er auch das umgebende Gewebe zerstören), Intoxikationen, Sauerstoffmangel etc.

Die Diagnose erfolgt durch Sprachtests (Nachsprechen, Schreiben, Lesen, Benennen, Verstehen, Spontansprache...; z. B. AAT) sowie durch bildgebende Verfahren (CT) – durch diese lassen sich mehr oder weniger große "Löcher" im Gehirn erkennen.

Aphasien bilden sich häufig durch Spontanremision ganz oder teilweise zurück, im Übrigen werden durch geeignete sprachtherapeutische Maßnahmen Besserungen erzielt.
 
 

Es gibt vier Standardsyndrome:

  1. Amnestische Aphasie (die leichteste Form)

  2.  

     
     
     
     
     

    "Nur" Wortfindungsstörungen, sowohl in der Spontansprache als auch in Benenntests. Ansonsten sind Sprachproduktion und Verstehen nahezu unbeeinträchtigt. Die Patienten müssen nur sehr häufig nach Wörtern suchen, sie sind aber leicht deblockierbar, z. B. durch Geben von Anlaut, Lückensatz o. ä. Die Einträge im Lexikon sind also erhalten, nur der Abruf ist gestört.
     
     

  3. Broca-Aphasie (auch: Motorische Aphasie)

  4.  

     
     
     
     
     

    Die Syntax ist stark vereinfacht – sog. Agrammatismus: Die Äußerungen bestehen oft nur aus Ein- bis Drei-Wort-Sätzen, sind im "Telegrammstil" gehalten. Der Sprachfluß ist stockend und wirkt mühsam. Der Patient ringt um die Worte. Die Artikulation ist oft undeutlich, verwaschen und ebenfalls mühsam, die Prosodie ist gestört, oft einförmig. Das Sprachverständnis ist noch relativ gut, die Selbstwahrnehmung und das Störungsbewußtsein ebenfalls.
     
     

  5. Wernicke-Aphasie (auch: Sensorische Aphasie)

  6.  

     
     
     
     
     

    Die Syntax ist zwar komplex angelegt, d. h. es werden komplizierte Satzkonstruktionen begonnen, jedoch nicht zu Ende geführt, sondern verschiedene Konstruktionen überlagern sich, werden abgebrochen, neue begonnen usw. (sog. Paragrammatismus). Die Patienten haben oft einen starken Rededrang und können ihren Redefluß kaum noch stoppen (sog. Logoroeh). Das Sprachverständnis ist stark gestört, die Patienten haben oft nur wenig Störungsbewußtsein. Die Prosodie und Artikulation scheinen mühelos.
     
     

  7. Globale Aphasie

Schwerste Form der Aphasie. Starke Störungen in allen Bereichen. Die Patienten verstehen kaum noch etwas, ihre Produktion ist ebenfalls extrem reduziert und häufig auf Echolalien (also Nachsprechen dessen, was der Gesprächspartner gerade gesagt hat, ohne dies jedoch zu verstehen), automatisierte Reihen (Wochentage, Monatsnamen, Zahlen...) oder Floskeln beschränkt. Häufig sind die Patienten halbseitig (rechts) gelähmt (Hemiplegie / -parese).

Eine Sonderform der Aphasie ist die sog. Leitungsaphasie. Hierbei ist das Nervenfaserbündel, das Broca- und Wernicke-Region verbindet, das sog. Fasziculus arquatus gestört oder unterbrochen. D. h. die unmittelbare Interaktion dieser beiden Regionen funktioniert nicht mehr, sie sind nur noch über den Umweg der inhaltlichen Interpretation miteinander verbunden. Im Test läßt sich das z. B. nachweisen als die Unfähigkeit der Patienten, Nonsenswörter (also Lautfolgen, die zwar den deutschen Lautgesetzten Genüge tun, aber bedeutungslos sind: Garb, Ulik, Murf ...) nachzusprechen. Dies ist nur möglich über die direkte Verbindung zwischen Wernicke- und Broca-Region; in der Wernicke-Region treffen die akustischen Stimuli ein und werden auch – so weit als möglich – adäquat bearbeitet. Aber da es für dieses Lautmuster keine Verbindung zur Semantik gibt und die zur motorischen Broca-Region unterbrochen ist, erhält die letztere keinen Input und kann somit auch keinen Output produzieren. Inhalttragende Wörter können die Patienten dagegen deutlich besser nachsprechen. Spontansprachlich und hinsichtlich des Sprachverständnisses sind sie weitgehend unauffällig.

Auch wenn jetzt hier die ganze Zeit von Broca- und Wernicke-Regionen (wohlgemerkt: nicht "Zentren"!) die Rede war – es sei nochmals darauf hingewiesen, daß Sprache ein zentraler Prozeß und damit nicht in klar umgrenzten Gebieten im Gehirn "angesiedelt" ist! Vielmehr sind überall im Gehirn, auch in der rechten Hemisphäre, sprachrelevante Bereiche zu finden (die vielleicht teilweise nur noch nicht so klar lokalisiert wurden wie Broca- und Wernicke-Region). Es ist heutzutage nicht mehr legitim, von Sprachzentren zu sprechen! Es ist zwar wohl richtig, daß Läsionen in diesen beiden Arealen häufig mit Sprachstörungen einhergehen, deswegen aber zu postulieren, daß die beeinträchtigten Leistungen hier und nur hier erbracht worden wären, ist ein Denkfehler; dies wurde mit Hilfe der sog. "Motor-Metapher" erklärt:

"Wenn bei einem Auto der Benzinschlauch ein Loch hat, so daß das Benzin nicht mehr in den Motor gelangt und dieser also stehen bleibt, würde man bei einem Blick auf den lädierten Benzinschlauch ja auch nicht auf die Idee kommen, daß an der Stelle, wo sich das Loch befindet, vorher die Leistung erbracht worden sei, die den Wagen vorantrieb." Entsprechendes gilt für die Aphasien und die Läsionen in diesen bestimmten Regionen: Mit Sicherheit passierte dort irgend etwas, was für die Sprache unerläßlich war; deswegen aber anzunehmen, daß die gesamte sprachliche Leistung dort erbracht worden sei, ist nicht haltbar. Offensichtlich liegt irgendein Diskonnektionismus vor, d. h. irgendwelche unerläßlichen Verbindungen zwischen verschiedenen sprachrelevanten Bereichen sind beeinträchtigt; mehr läßt sich aber nicht sagen. Weiter gute Argumente gegen die Zentrierung der Sprachleistungen in diesen klar umgrenzten Regionen ist die Tatsache, daß es Fälle mit winzigen Läsionen und umfangreichen sprachlichen Defiziten gibt, solche mit riesigen Läsionen und nahezu keinen sprachlichen Auffälligkeiten und solche, bei denen die Läsion eher im Broca-Areal liegt, das Störungsbild aber eher an Wernicke erinnert (oder umgekehrt).
 
 
 

5. Block

5.1 Wiederholung

Stimmhaftigkeit? Stimmlippen flattern!

Stimmlippen flattern? d. h. die Stimmlippen sind geschlossen; dahinter staut sich die Atemluft, so lange, bis der Luftdruck zu groß wird; der öffnet dann die Stimmlippen kurz, es strömt ein "Klumpen" Atemluft aus; wenn auf diese Weise der Luftdruck gesenkt wurde, schnellen die Stimmlippen wieder zusammen und schließen so die Stimmritze. Die Luft staut sich wieder usw. Auf diese Weise entsteht eine Reihe von gleichmäßigen Luftdruckschwankungen = Töne.

Vokale? sind immer stimmhaft, d. h. die Stimmlippen flattern (s. o.). Der auf diese Weise gleichmäßig geformte Luftstrom wird nicht durch irgendwelche Hindernisse gestoppt / gebremst: Der unterschiedliche Klang der verschiedenen Vokale entsteht nur durch den jeweils unterschiedlichen Resonanzraum (gebildet durch Öffnungsgrad des Unterkiefers, Rundung der Lippen)

Konsonanten? können stimmhaft o. stimmlos sein (d. h. Töne + Geräusch oder nur Geräusche (Konsonanten sind immer zumindest auch Geräusche!)). Luftstrom wird durch d. Artikulatoren manipuliert, d. h. es entstehen Verwirbelungen d. Luftstroms.

/h/ ? Kein Resonanzraum, kein Flattern der Stimmlippen, von daher Konsonant; keine Manipulation durch Artikulatoren, von daher auch vokalische Anteile.
 
 

5.2 Neuer Stoff: Von der Phonetik zur Phonologie zur Morphologie

Frage: Wozu hat man überhaupt all diese verschiedenen Artikulationen?

Antwort: Ganz einfach um ausreichend viele verschiedene Laute zu haben, um all die verschiedenen Wörter codieren zu können.

Man spricht in diesem Zusammenhang von der Sonorität der verschiedenen Laute: Unter Sonorität eines Lautes versteht man die Mixtur seiner verschiedenen Merkmale als Unterscheidungskriterien gegenüber anderen Lauten.

Die Sonorität einzelner Laute läßt sich auf der folgenden Sonoritätsskala darstellen:

5.2.1 Sonorität / Sonoritätsskala:


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Extreme Sonoritätsunterschiede werden in allen Sprachen der Welt aus Gründen der Sprach-
ökonomie vermieden: Laute, die auf der o. g. Sonoritätsskala weit auseinander liegen (~ extremer Sonoritätsunterschied), würden, direkt hintereinander gesprochen, eine erhebliche motorische Anstrengung der Artikulatoren erfordern; diese wird vermieden.

Ebenso wird eine zu große Minimierung der Sonoritätsunterschiede überall vermieden: Die einzelnen Laute wären sonst nur noch schwer von einander unterscheidbar.
Bsp.:


 

5.2.3 Phon – Phonem - Allophon

Ein Phon ist also ein nicht weiter klassifizierter Laut, eine Lautbildung, noch nicht nach Funktionalität unterschieden. Man verwendet sie, so lange es nur um die Segmentierung einer Lautkette geht.

Ein Phonem ist dagegen ein klassifizierter Laut, d. h. es wurde mit Hilfe eines Minimalpaares festgestellt, daß in einer Kette von Lauten (...einem Wort...) ein Bedeutungsunterschied entsteht, wenn man diesen einen Laut durch einen anderen ersetzt. Es ist funktional, es ist bedeutungsrelevant.
 
 

Ein Phonem ist also die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit einer Sprache !!!


5.2.4 Kombinatorische Allophone – frei wählbare Allophone

Kombinatorische Allophone

Wie das o. g. Beispiel zeigt, gibt es offenbar für (manche) Allophone – wie z. B. aspirieretes vs. nicht aspiriertes /k/ - feststehende Regeln, wann sie verwendet werden: Wie oben beschrieben, werden die beiden Varianten des /k/ in Abhängigkeit von der lautlichen Umgebung gewählt – das eine vor Vokalen, das andere vor Konsonanten. Allophone dieser Art nennt man kombinatorische Allophone, weil sie eben jeweils in Abhängigkeit, d. h. in Kombination mit bestimmten anderen Phonen auftreten. D. h. wo das eine steht, darf korrekter Weise das andere nicht stehen und umgekehrt – das nennt man komplementäre Distribution oder komplementäre Verteilung.

Frei wählbare Allophone

Es gibt aber auch Allophone, für die es keine Regeln gibt, wann welches Allophon steht. Ein Beispiel hierfür wären die Allophone des /r /-Phonems: Ob ich "Recht", "Rübe", "Rhabarber" etc. mit frikatives Rachen-R, [r ] (rollendes Zäpfchen-R) oder [R ] (Zungenspitzen-R) spreche ist völlig egal und folgt auch keiner Ausspracheregel (es verrät allenfalls etwas über die Herkunft des Sprechers – Zungenspitzen-R wird v. a. im bayerischen Dialektraum gesprochen). Solche Allophone nennt man frei wählbare Allophone.

5.2.5 Phonetik - Phonologie

Es geht also inzwischen nicht mehr um die reine Beschreibung der Lautbildung und die Segmentierung von Lautketten in Laute – das war Gegenstand der Phonetik.

Jetzt geht es um die funktionale Beschreibung der Laute (also welche Funktion sie haben, wie sie im Zusammenhang mit anderen Lauten funktionieren...); es geht darum, die Laute zu klassifizieren – das ist der Gegenstand der Phonologie.

5.2.6 Saussure und die Phonetik / Phonologie

Erst die Phonologie gehört im engeren Sinne zur Sprachwissenschaft; die Phonetik ist eigentlich noch Biologie und Physik; erst wenn man sich mit Phonemen beschäftigt, befindet man sich auch "innerhalb des de Saussurschen Zeichens", nämlich im Bereich der images (nur die Abschnitte B und C stellen das Zeichen dar!). Wir erinnern uns an Saussures zweiseitiges Zeichenmodell. Phonetik und Phonologie werden den Bereichen A und B zugeordnet:


 
 

5.2.7 Phonologie + Morphologie

Die Begriffe der Phonologie finden ihre direkte Entsprechung in der Morphologie:

Dem Phon entspricht das Morph,

" Phonem " Morphem,

" Allophon " Allomorph.

So wie sich die Phonologie mit der Klassifizierung und funktionalen Beschreibung der einzelnen Sprachlaute (Phoneme) beschäftigt, so beschäftigt sich die Morphologie mit der Klassifizierung und funktionalen Beschreibung der nächstgrößeren Einheit, den Morphemen.

5.2.8 Morph, Morphem und Allomorph

Morph: noch nicht weiter klassifizierte Lautfolge (Folge von Phonemen).

Morphem: Eine nach ihrer funktionalen Bedeutung klassifizierte bedeutungstragende Lautfolge, ein (Bestandteil eines) Wort(es), das genau einen Inhalt, eine Bedeutung transportiert.

Ein Morphem ist also die kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache

Allomorphe: Phänomenologisch verschiedene Lautfolgen (also aus jeweils anderen Lauten bestehend), die aber die gleiche Funktion, also die gleiche Bedeutung haben, und deshalb zu ein und dem selben Morphem gehören. (z. B. alle Morpheme, die die Bedeutung "Plural" transportieren: -er, -en, -s, -e, sind Allomorphe des Plural-Morphems; sie klingen anders, werden anders gebildet, bestehen aus jeweils verschiedenen Lauten, haben aber alle die gleiche Bedeutung: Plural!)

Nochmals zurück zu den Morphemen:

Jedes Wort besteht also aus einem oder mehreren Morphemen:

"Auto|s" besteht aus zwei Morphemen: 1. Auto-: "motorgetriebenes, vierrädriges Fahrzeug"

2. –s: "Plural; mehr als eines"

"Boot|e" besteht auch aus zwei Morphemen: 1. Boot-: "kleines Wasserfahrzeug" o. ä.

2. –e: "Plural; mehr als eines"

"lach|-|st" besteht aus drei Morphemen: 1. lach-: "Lautäußerung, die Heiterkeit ausdrückt"o.ä.

2. -( -, sog. Nullmorphem: "Tempus: Präsens"

3. –st: "Numerus: 2. Pers. Singular"

"lach|t|est" besteht auch aus drei Morphemen: 1. lach-: wie oben

2. –t-: "Tempus: Präteritum"

3. –est: "Numerus: 2. Pers. Singular"
 

5.2.9 Kombinatorische und frei wählbare Allomorphe

Wie es bei den Phonemen die kombinatorischen Allophone gibt (s. o.), so gibt es entsprechend bei den Morphemen die kombinatorischen Allomorphe.

Beispiele hierfür sind die beiden Allomorphe –s ("Auto/s") und –e ("Boot/e") des Plural-Morphems sowie die beiden Allomorphe –st ("lach/st") und –est ("lach/t/est") des 2.Pers.Sing.-Morphems aus dem obigen Beispiel: Auch wenn sie jeweils das selbe bedeuten, kann ich sie selbstverständlich nicht beliebig verwenden; welches ich verwenden muß, hängt wiederum davon ab, in welcher Umgebung es steht, konkret: welchem lexikalischen Morphem (s. u.) es die Bedeutung "Plural" anfügen soll – "Autoe" ist eindeutig falsch, auch wenn –e im Prinzip das selbe bedeutet wie –s.

Ob ich als 2.Pers.Sing.-Morphem –st oder –est verwende, hängt mit der lautlichen Umgebung zusammen: "normalerweise" verwende ich –st; wenn aber dieses apiko-alveolare Lautcluster auf ein Morphem folgen würde, dessen Schlußlaut am selben Artikulationsort gebildet wird (wie z. B. das Präteritum-Morphem –t), der Sonoritätsunterschied und damit die Deutlichkeit also zu klein würde, dann muß ich statt dessen –est wählen.

Auch die kombinatorischen Allomorphe sind also komplementär verteilt: "Wo das eine stehen muß, darf das andere nicht stehen" und umgekehrt: ich sage weder "lach|t|st" noch "lach|( |est" (außer wenn ich mich betont "geschwollen" ausdrücken will...).

Es gibt auch einige frei wählbare Allomorphe. "Tür" und "Türe" wären Beispiele hierfür: Ganz egal wo, wie, in welchem Zusammenhang – es ist völlig egal, welches von den beiden ich wähle, sie sind immer beide möglich und richtig, und es bleibt meinem Geschmack überlassen, wofür ich mich entscheide.

5.2.10 Grammatische und lexikalische Morpheme

Die Morpheme lassen sich unterteilen nach den sog. lexikalischen und den grammatischen Morphemen.

Die lexikalischen Morpheme beziehen sich auf die Dinge der Umwelt (i.w.S.), sie sind gewissermaßen die Namen der Gegenstände (sehr salopp ausgedrückt...!). Das sind also die Morpheme wie Türe-, Boot-, lach-, ängst- (von "ängst|lich", "ängst|igen"...) kauf-, schnell- ...

Diese Klasse von Morphemen ist offen, d. h. sie ist im Prinzip jederzeit und beliebig erweiterbar, und sie wird auch ständig erweitert: lexikalische Morpheme wie "e-mail-", "blade-" gab es bis vor einigen Jahren noch nicht...

Die grammatischen Morpheme beziehen sich auf die grammatische Funktion eines Dings (i. w. S.) in einem Satz: Sie drücken aus, ob das Ding als Substantiv, Objekt oder Verb gebraucht wird, im Singular oder Plural, in welcher Zeit etc. Beispiele hierfür sind die verschiedenen Affixe (Suffix, Präfix, Infix), wie wir sie oben bereits kennengelernt haben: -e, -s ... für Plural, -t- für Präteritum, -st, -est für 2.Pers.Sing..., aber auch Artikel u. ä., wie z. B. "der", "ein", "des" etc..

Für die Allomorphe der grammatischen Morpheme gibt es zwei Typen von Verteilung:

1. nach grammatischen Kriterien - klar: je nachdem, an welcher Stelle im Satz, in Verbindung mit welchem lexikalischen Morphem, in welcher/m Funktion, Tempus, Numerus, Kasus... das Morphem steht.

2. nach phonetischen Kriterien - je nachdem, welcher Laut vorangeht, welches Allomorph also "bequemer" zu realisieren ist bzw. am besten verstehbar ist.

5.2.11 double articulation (André Martinet)

Die Wörter der Sprache (sowohl ihre Laut- als auch ihre Schriftform) lassen sich also in zwei Schritten "auseinandernehmen":

  1. in die einzelnen Morpheme
  2. in die einzelnen Phoneme (bzw. Grapheme).

Der Franzose André Martinet prägte hierfür den Begriff der double articulation, zu deutsch: Zweifache Gegliedertheit.

Im Falle der Lautsprache gilt dies für alle Sprachen der Welt! D. h. alle Sprachen der Welt haben in ihrem jeweiligen Lautsystem jeweils ungefähr 30 Phoneme (Min. knapp unter 20, max. knapp über 40, wenn ich mich recht erinnere), aus denen setzen sie die Morpheme zusammen und aus diesen wiederum die Wörter.

Im Falle der Schriftsprache gilt dies aber nur für die sog. Alphabetschriftsysteme, die jeweils (ungefähr...) pro Phonem ein Schriftzeichen haben, aus diesen die Morpheme und daraus wiederum die Wörter zusammensetzten:
 

bedeutungsunterscheidend  bedeutungstragend
~ 30 Phoneme;

dem entsprechen

~ 30 Grapheme (Buchstaben) in den Alphabetschriftsystemen

~ 10.000 Morpheme;

dem entsprechen

~ 10.000 Grapheme in den Bildschriftsystemen. 

Die Alphabetschriftsysteme sind also offensichtlich sehr viel ökonomischer als die Bildschriftssteme – man muß eben nur einen Bruchteil der Zeichenmenge lernen, die ein Bildschrifsystem beinhaltet, nämlich ca. 30. Dementsprechend braucht man (d. h. ein Kind) ca. 1,2 Jahre um eine Alphabetschrift zu erlernen; um eine Bilderschrift auch nur einigermaßen zu beherrschen, braucht man viele, viele Jahre (~ ungefähr bis zum Abitur, um eine Tageszeitung lesen zu können), letztlich lernt man ein Leben lang.

Unsere Alphabetschrift geht ursprünglich auf die Phönikier zurück; die Römer übernahmen deren Schriftsystem und änderten es bis (annähernd) zur heutigen Form ab.
 

5.2.12 Anhang: Die paradigmatische und die syntagmatische Ebene

(Wurde im Seminar nur kurz im Zusammenhang mit den Minimalpaaren (s. o.) angerissen.)

Die syntagmatische Ebene ist die ("horizontale") Eben der sequenziellen Abfolge einzelner Elemente (Phoneme, Morpheme) in einem Syntagma (= einer Folge solcher Elemente); die paradigmatische Ebene ist die ("vertikale") Ebene, auf der einzelne Elemente innerhalb eines Syntagmas gegen andere Elemente ausgetauscht werden können:
 
 

  • 6. Block

    6.1 Wiederholung

    Martinet? "Erfinder" der Double Articulation, d. h. der Doppelten Gegliedertheit der Sprachen und der Alphabetischen Schriftsysteme.

    Double Articulation? Die Elemente der Sprache lassen sich in zwei Einheiten untergliedern: in Morpheme und Phoneme.

    Na und? Das ist sehr ökonomisch! Auf diese Weise lassen sich durch wenige Phonem (und v. a. durch wenig Grapheme!) viele, viele Bedeutungen verschlüsseln.

    Schriftsysteme? Alphabetische Schriftsysteme vs. Bildschriftsysteme: Ein alphabetisches Schriftsystem umfaßt nur ca. 30 Zeichen, nämlich ungefähr pro Phonem eines; ein Bildschriftsystem aber ca. 10.000, nämlich ein Zeichen für jedes Morphem!

    Gliederung? Auf beiden Ebenen (der phonologischen und der morphologischen) läuft sie total parallel – zuerst:

    Segmentierung in Phone bzw. Morphe, dann:

    Klassifizierung in Phoneme / Allophone bzw. Morpheme / Allomorphe.

    Minimalpaar? Wenn sich im Substitutionstest keine Minimalpaar finden läßt, handelt es sich um Allophone eines Phonems.

    Komplementäre Verteilung? = Verteilung nach festen Regeln! Die Verteilung erfolgt aufgrund der Sprachökonomie: Es ist einfacher, nacheinander zwei Laute zu artikulieren, deren Artikulationsorte nahe beieinander liegende als welche, deren Artikulationsorte weit entfernten sind.

    Verteilung nach welchem Prinzip? Kombinatorische Allophone sind nach lautlichen / artikulatorischen (s. o. die Allophone des /x/-Phonems) Kriterien verteilt.

    Pluralmorphem? Enthält im Deutschen neuen verschiedene Allomorphe!!! (Ökonomie?!)

    Verteilungsregeln der Morpheme? Nach zwei Prinzipien:
    1. nach dem grammatischen Kontext (z. B. lang- vs. läng-: läng- steht nur in den Steigerungsformen);
    2. nach Artikulatorischen Kriterien: -st und –est sind beides Allomorphe des Zweite-Person-Singular-Morphems – wann welches davon steht, hängt davon ab, welcher Laut diesem Allomorph vorangeht: Ist dies ein Konsonant mit gleichem Artikulationsort wie [s], [t] so folgt –est, sonst –st.

      1. Neuer Stoff: Vertiefung Morphologie / Einstieg in die Syntax

    6.2.1 Vertiefung Morphologie

    ... und was ist mit Wörtern wie

    (gut) – besser – (am) besten?

    Wieviele Morpheme haben die nun? Nur eines? Oder zwei?

    Antwort: Zwei Morpheme!: Bess/er

    Und wie verhalten sich dann gut und bess- zueinander?

    Ganz klar: Sie sind Allomorphe eines Morphems!

    Daraus ergeben sich die zwei Fragen nach der Verteilung:

    1. Sind sie komplementär oder frei wählbar verteilt?

    2.  

       
       
       
       
       

      ntwort: gut/er als Steigerungsform?!?!? – Wohl kaum! Also: Natürlich komplementär!!!
       

    3. Und nach welchen Kriterien sind sie verteilt?

    Antwort: nach grammatischen Regeln! bes(s)- steht nur bei den Steigerungsformen.

    Alles klar! Oder? Hmmm...

    Wenn man aber die beiden Reihen

    gut – besser – am besten

    schön – schöner – am schönsten

    miteinander vergleicht, d. h. v. a. ihre Superlativformen, läge eigentlich die Schlußfolgerung nahe, daß –sten das Superlativ-Morphem ist! Dann bleibt für das lexikalische Morphem aber nur noch be- statt bes-?!

    Antwort: Genau! – Wenn man so will. D. h. die Frag, wo denn das -s- nun hingehört, ist nicht klar entscheidbar: Sowohl die Segmentierung in be/sten als auch die in bes/ten ist denkbar.

    D. h. ich muß immer ein Morphem um ein Allomorph erweitern:

    Entweder das /gut/-Morphem, das bislang die Allomorphe /gut/, /bess-/, /bes-/ enthält um /be-/ oder das Superlativmorphem, das bislang nur /-sten/ enthält um das Allomorph /-ten/ - an irgendeiner Stelle im System wird’s also ein bisserl komplizierter – wo, das kann ich mir aussuchen...

    6.2.1.2 Supletivwesen

    Darunter versteht man die Kombination ursprünglich verschiedener Wörter zu (semantischen) Einheiten, um so alle Allomorphe durchlaufen zu können. Ein gutes Beispiel ist hierfür das Hilfsverb "sein": Hier gibt es heute die Allomorphe /sein/, /bi-/, /ist/, ... /war-/ etc. Diese verschiedenen Allomorphe gehen auf drei ursprünglich völlig verschiedenen Wörter zurück, nämlich "sin", "wessan" und "ben".
     
     

    6.2.2 Einstieg in die Syntax

    Eine Äußerung besteht also offenbar aus der Abfolge von kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, d. h. aus der Summe der einzelnen Bedeutungen dieser Einheiten. Oder?

    Das hieße also: A + B + ... = X

    Morphem a Morphem b Morphem ... Bedeutung von Satz x

    Hm. Und bekanntlich gilt ja A + B = B + A.

    Also: zwei/hundert = hundert/zwei.... und Bier/faß = Faß/bier...?

    Wohl doch nicht so ganz. Offensichtlich wird die Bedeutung der Morphemsequenz doch noch durch etwas anderes bestimmt als nur die Bedeutung der einzelnen Morpheme /zwei/ und /hundert/ bzw. /bier/ und /faß/ - nämlich durch die Art und Weise, in der diese aufeinander folgen.

    Im Falle der Zahlwörter gilt offenbar:

    6.2.3 Nichtsegmentale Ausdrucksweise

    Offenbar gibt es also Bedeutungselemente, die nicht durch die bekannte segmentale Ausdrucksweise codiert werden, dies ist dann eine nichtsegmentale Ausdrucksweise! D. h. diese Bedeutungselemente kann ich nicht durch Segmentierung in Morpheme isolieren; sie werden nur durch die Art, wie die Morpheme miteinander kombiniert sind, vermittelt.

    Demnach bedeutet die Sequenz

    Klaus kommt nicht unbedingt das gleiche wie

    kommt Klaus ?

    Wir suchen nun also nach den Regeln, wie die einzelnen Elemente in einem Satz kombiniert werden müssen, damit der Satz korrekt ist bzw. eine ganz bestimmte Bedeutung hat.

    Bleiben wir zunächst bei den Aussagesätzen.

    Der Satz Klaus kommt. legt die Vermutung nahe, daß in einem Aussagesatz das finite Verb immer an zweiter Stelle steht. Aber wie sieht das dann z. B. aus bei dem Satz Der Mann kommt.? Da steht das finite Verb an dritter Stelle! Also steht es immer am Schluß? Aber was ist dann mit Heute kommt meine Tochter.? Also:

    Klaus kommt.

    Der Mann kommt.

    Heute kommt meine Tochter.

    - auf den ersten Blick ist hier kein rechtes Prinzip zu erkennen. Aber irgendwie lassen sich die Sätze sozusagen "intuitiv" in einzelne Teile gliedern, etwa so:

    Klaus kommt.

    Der Mann kommt.

    Heute kommt meine Tochter.

    Hier fällt auf, daß das finite Verb ("kommt") immer als zweiter Teil in der Sequenz steht (während es bei einem Fragesatz an erster Stelle stehen würde). Jetzt sollte man nur noch von dieser "intuitiven" Eben weg kommen und ein Prinzip finden, nach dem hier einzelne Wörter in zusammenhängende Teile zusammengefaßt wurden... Und dazu begibt man sich mal wieder auf die paradigmatische Ebene und bedient sich des Substitutionstests, fragt sich also, wodurch denn die einzelnen Teile ersetzbar wären.
     
     

    6.2.4 Substitutionstest

    In unserem Beispiel widerspricht ja nur der zweite Satz, Der Mann kommt. der Theorie von der Zweitplatzierung des finiten Verbs. Es gilt also, mittels Substitutionstest ein einzelnes Morphem zu finden, das den Teil Der Mann ersetzen könnte, ohne daß der Satz ungrammatisch wird.

    Gibt´s sowas?

    Na klar: Der Mann ist ohne weiteres ersetzbar durch Er – und damit würde auch dieser Satz perfekt ins Schema passen.

    Nach diesem Prinzip lassen sich wahre "Bandwürmer" zu einem einzigen Teil zusammenfassen:

    Der alte Mann, der lange nichts von seinen Kindern aus Frankreich gehört hatte, // ging nach Hause.

    Auch bei diesem "Monsturm" läßt sich der gesamte, aus immerhin dreizehn Wörtern bestehende erste Teil (bis zum Zeichen // ) durch ein schlichtes Er ersetzen – das finite Verb ging steht damit wieder an zweiter Stelle.

    Die syntagmatische Anordnung der Teile eines Satzes trägt also etwas zur Bedeutung bei! Das heißt, diese Anordnung hat im besten de Saussurschen Sinne Zeichencharakter.

    Und mit dieser Anordnung der Satzteile bzw. den Regeln, nach denen solche Sequenzen aufgebaut werden, beschäftigt sich die Syntax.

    Nochmals zurück zum obigen "Monstersatz":

    Nicht nur der erste Teil vor // ist auf der paradigmatischen Ebene durch ein einziges Morphem ersetzbar – dies gilt auch für den zweite Teil hinter //: Der kann z. B. durch "schläft" ersetzt werden. Also besteht dieser elendslange Satz offenbar letztlich nur aus zwei Teilen.

    6.2.5 Kommutationstest oder Permutationstest

    Die einzelnen Teile eines Satzes lassen sich nicht nur auf der paradigmatischen Ebene durch den Substitutionstest ersetzen; man kann sie auch auf der syntagmatischen Ebene durch den sog. Kommutationstest oder Permutationstets, zu deutsch also ein Umstellungstest, verschieben. D. h. die mutmaßlichen Teile des Satzes werden in ihrer syntagmatischen Reihenfolge variiert – solange dabei weiterhin grammatikalisch korrekte Sätze entstehen, ist damit der Beweis erbracht, daß es sich bei den umgestellten Teilen offensichtlich tatsächlich um zusammenhängende Einheiten handelt.

    Bsp.:

    Der jüngere Mann // schenkt // ihr // rote Rosen.

    // bedeutet die "mutmaßlichen" Grenzen der einzelnen Teile. Und tatsächlich:

    Rote Rosen // schenkt // ihr // der jüngere Mann.

    Schenkt // der jüngere Mann // ihr // rote Rosen?

    Schenkt // ihr // der jüngere Mann // rote Rosen?

    (Ich habe gesehen, daß) der jüngere Mann // ihr // rote Rosen // schenkt.

    sind allesamt ebenfalls grammatikalisch korrekte Sätze. Dagegen wäre etwa

    * jüngere Der Mann // ihr // schenkte // Rosen rote.

    gänzlich ungrammatisch – die Umstellung erfolgte hier auch innerhalb der "gemutmaßten" Satzteile. Der Kommutationstest war also erfolgreich.

    Es hängen also einzelne Wörter in einem Satz, nämlich die der einzelnen Teile, fester / enger miteinander zusammen als andere – diese besonders eng zusammenhängenden Wörter können nicht einfach getrennt / umgestellt werden, sonst wird der Satz ungrammatisch : Der Satzteil Der jüngere Mann ist ein Beispiel dafür.

    Diese Zusammenhänge werden in den sog. Stammbäumen dargestellt:
     
     

    6.2.6 Ein Stammbaum

     

    In dieser Darstellung unterscheidet man zwischen Knoten und Kanten: Knoten sind da, wo verschiedene Linien zusammentreffen, Kanten verlaufen entlang der einzelnen Linien.

    Ein solcher Stammbaum bildet Teil-Ganzes-Beziehungen ab, nämlich die Beziehung der einzelnen Satzteile zum ganzen Satz, bzw. die der einzelnen Wörter / Morpheme zum jeweils übergeordneten Teil.

    Es handelt sich nicht um eine Element-Klasse-Beziehung! (Bsp. Ein einzelner Stuhl ist ein Teil des Ganzen "Menge aller Stühle" – dies ist also eine Teil-Ganzes-Beziehung. Aber die Stühle sind ein Element der Klasse "Mobiliar" – also eine Element-Klasse-Beziehung.)

    6.2.7 Konstituenten-Struktur-Grammatik und IC-Analyse

    Die Syntax, als die Lehre von der syntagmatischen Abfolge der Teile eines Satzes, gehört offensichtlich in den Bereich, den man in der Schule pauschal als "Grammatik" bezeichnet. Aber diese spezielle Vorgehensweise, die Aufschlüsselung und Darstellung eines Satzes in solchen Stammbäumen, sind doch wohl etwas ganz anderes als die gute alte Schulgrammatik. Wie soll man also diese spezielle Art von Grammatik nennen?

    Da sie sich mit der Untergliederung des Satzganzen in seine Teile, seine Konstituenten (von engl.: constituents) sowie der Beziehung dieser Teile zueinander, kurz: der Struktur (engl.: structure) des Satzes beschäftigt, nennt man sie Konstituenten-Struktur-Grammatik. Es werden also wie gesagt Teil-Ganzes-Beziehungen dargestellt.

    Das Vorgehen, einen Satz in solch einem Stammbaum darzustellen, nennt man IC-Analyse (v. engl.: "immediate-constituents–analyse"), da sie den Satz in seine unmittelbaren Teile (seine immediat constituents), nämlich die oben beschriebenen Satzteile zerlegt, diese Satzteile wiederum in ihre unmittelbaren Teile, z. B. Wörter oder zumindest noch kleiner Teile, die Wörter wieder in die unmittelbaren Konstituenten, die Morpheme etc., also die jeweils übergeordnete Ebene immer in die nächstkleinere Einheit.

    Die einzelnen Teile, die im obigen konkreten Satzbeispiel jeweils eben konkrete Satzteile waren, müssen natürlich in einer Konstituenten-Struktur-Grammatik auch allgemein und abstrakt, eben als Sturktur dargestellt und benannt werden. Dies zeigt die folgende verallgemeinerte Form des obigen Beispiels:
     
     


     

    6.2.8 Teil-Ganzes-Beziehung – Teil-Teil-Beziehung

    Die Beziehung zwischen den jeweils untergeordneten Teilen und dem übergeordneten Satz(teil) ist also wie oben dargestellt eine Teil-Ganzes-Beziehung. Dann müßte es doch aber auch Teil-Teil-Beziehungen geben?

    Klar gibt´s die! Es gibt sogar drei verschiedene:

    1. Bei zusammengesetzten Nomina: Haustür, Bierfaß, Stuhlbein... . Hier bestimmt (= determiniert) der erste Teil des Wortes den zweiten Teil des Wortes näher: Eine Haustür ist nicht irgendeine Tür, sondern die eines Hauses usw. Eine solche Teil-Teil-Beziehung nennt man Determinationsbeziehung.
    2. Aber auch zwischen den Wörtern eines Satzteiles kann es Teil-Teil-Beziehungen geben. So müssen z. B. die einzelnen Teile der Nominalphrase (also z. B. Artikel, Adjektiv und Substantiv) in Nummerus, Kasus und Genus übereinstimmen: Bei der Nominalphrase aus dem obigen Beispiel Der jüngere Mann haben die drei Teile alle den Nummerus "Singular", den Kasus "Nominativ" und das Genus "maskulinum" – Variationen wie Die jüngere Mann, Der jüngeren Mann, Der jüngere Männer... sind eben allesamt grammatisch inakzeptabel. Eine solche Teil-Teil-Beziehung nennt man Morphologischen Kongruenz.

    3. Die Beziehung der Morphologischen Kongruenz gibt es auch zwischen der Nominalphrase und dem finiten Verb der Verbalphrase: Sie müssen in Person und Nummerus übereinstimmen. Beim obigen Beispiel also Der jüngere Mann ist 3. Person Singular, also heißt das finite Verb der Verbalphrase schenkte, und nicht schenktest (2. Pers.) oder schenkten (Plural).
    1. Die Verbalphrase schenkte ihr rote Rosen. aus dem obigen Beispielsatz enthält wie dargestellt u. a. die untergeordnete Nominalphrase Akkusativ rote Rosen. Wir stellen fest: Der Satz wäre grammatisch auch dann noch korrekt, wenn da nur stünde schenkte ihr Rosen. Das rote kann also offenbar auch wegbleiben, ohne die Grammatikalität des Satzes zu beeinträchtigen. Die Rosen könnten hingegen nicht einfach wegbleiben: Die Verbalphrase schenkte ihr rote. wäre (zumindest ohne einen weiteren textuellen Kontext wie z. B. "Ihre Mutter schenkte Martina zum Geburtstag gelbe Rosen" – in einem solchen Kontext wäre natürlich auch der Satz "Der junge Mann schenkte ihr rote." denkbar..) grammatisch falsch weil unvollständig.

    Es besteht also offenbar noch eine besondere, eine Teil-Teil-Beziehung zwischen rote und Rosen: Rote ist von Rosen abhängig, Rosen jedoch nicht von rote. Rote setzt Rosen voraus, aber nicht umgekehrt. Es besteht also eine Einseitigkeit in dieser Beziehung. Man nennt diese Art von Teil-Teil-Beziehung Dependenzbeziehung: Man sagt, es bestehe eine Dependenzbeziehung zwischen rote und Rosen.

    6.2.9 Valenz-Dependenz-Grammatik

    Wie wir nun gesehen haben, gibt es gibt es offensichtlich nicht nur "die Grammatik", wie uns die Schulbücher glauben machen wollen, sondern es gibt viele verschiedenen Grammatiken, d. h. viele verschiedenen grammatischen Ansätze mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

    Ein weiterer solcher Ansatz ist die Valenz-Dependez-Grammatik. Diese Grammatik hat ihren Namen, weil sie die Sätze vom Verb ausgehend, in Abhängigkeit (Dependenz) von der Wertigkeit (Valenz) des finiten Verbs, beschreibt.

    Was meint die Rede von der Wertigkeit des Verbs? Ganz einfach: Ein finites Verb "verlangt" immer eine bestimmte Anzahl weiterer Satzteile, d. h. Subjekt und Objekt(en), damit ein vollständiger Satz dabei herauskommt; im Deutschen gibt es ein-, zwei- und dreiwertige Verben:

    1. "schlafen" ist z. B. einwertig: Die finite Form "schläft" verlangt nur nach einem Subjekt, dann ist der Satz komplett: "Er schläft." ist ein vollständiger und grammatisch korrekter Satz der deutschen Sprache; "... gut" wäre eine mögliche Erweiterung des Satzes, aber nicht obligatorisch.
    2. "schlagen" ist z. B. zweiwertig: Die finite Form "schlägt" verlangt mindestens (s.o., Anm. 41!) ein Substantiv und ein Akkusativobjekt: "Peter schlägt seine kleine Schwester." (so ein Lümmel!), "Der SC schlägt den VFB." (schön wär´s...); "... mit 3:2 Toren." wäre eine mögliche, nicht obligatorische Erweituerung.
    3. "schenken" ist z. B. dreiwertig: Das finite Verb "schenkt" verlangt mindestens (s. o. Anm.41!) ein Subjekt, ein Dativ- und ein Akkusativobjekt: "Der junge Mann schenkt ihr rote Rosen." (schon wieder!); "... zum Geburtstag." wäre eine mögliche, nicht obligatorische Erweiterung.

    Die Aufgliederung des Satzes erfolgt also in ähnlicher Weise wie bei der Konstituenten-Strukturgrammatik, nur ist die hierarchische Struktur hier anders konzipiert: An der Spitze steht sozusagen das Verb, von diesem hängen die übrigen Satzteile ab; es gibt in der Valenz-Dependenz-Grammatik also nicht die verschiedenen Ebenen der IC-Analyse, sondern die Satzteile Subjekt und Objekt(e) sind in der Hierarchie gleichgestellt und vom Verb abhängig. Die Valenz-Dependez-Grammatik beschäftigt sich aber nur mit den obligatorischen Satzteilen (s.o.)! D. h. nicht obligatorische Teile werden hier nicht weiter untersucht.

    Die Dependenzbeziehung zwischen dem finiten Verb und den weiteren Satzteilen ist jedoch etwas anders geartet als diejenige zwischen rote und Rosen (s. o. 6.2.8 –3.): Genaugenommen handelt es sich hier um eine Interdependenzbeziehung, also eine wechselseitige Abhängigkeit! Denn nicht nur Subjekt und Objekt(e) hängen vom Verb ab, sondern natürlich auch das Verb in gewisser Weise von Subjekt und Objekt(en) – alleine bildet das Verb eben keine "stabile Verbindung", d. h. keinen vollständigen Satz der deutschen Sprache.
     
     

    7. Block

    7.1 Wiederholung

    Valenz? Beschreibt eine Teil-Teil-Beziehung zwischen Satzteilen. Wir interessieren uns hier nahezu ausschließlich für die Valenz der finiten Verben; es gibt aber auch eine Valenz von Adjektiven oder (selten) Nomen.

    Fragen der Valenz? 1. Frage nach dem Wieviel? Also nach der Wertigkeit (= Bindefähigkeit) des Verbs. 2. Frage nach dem Welche? Also welche Elemente bindet dieses Verb an sich? Diese Frage ist nicht immer ganz leicht und oft nur intuitiv zu beantworten!

    Adjektive? Können auch durch Valenz beschrieben werden. Bsp.: "schuldig". Ist dreiwertig! 1. Nominalgruppe Nominativ (z. B. "Der Mann", "Der ehemalige Firmenchef", ...), 2. Verbalgruppe (z. B. "ist", "bekennt sich", ...), Nominalgruppe Genitiv od. Präpositionalgruppe (z. B. "des Mordes an seiner Frau.", "am Konkurs des namhaften Konzerns.", ...).

    7.2 Neuer Stoff

    7.2.1 Vertiefung Valenzgrammatik

    Für eine komplette Valenzbeschreibung werden zunächst immer drei Fragen gestellt:

    1. Wie viele Bindungsstellen hat das Verb? (= wieviel-wertig ist das Verb?)
    2. Wie lassen sich die Segmente morphosyntaktisch beschreiben?
    3. Wie lassen sich die Segmente semantisch / inhaltlich beschreiben?

    Beispiele: "wohnen"

    (Ich // wohne // hier., Meine Tante // wohnt // in Freiburg., ...)

    1. Zweiwertig!
    2. 1. Aktant: Nominalphrase Nominativ!

    3. 2. Aktant: Adverb oder Adverbialphrase
    4. 1. Aktant: menschlich (= hum.)

    5. 2. Aktant: örtlich (= lok.)

    7.2.2 Aktanten und Zirkumstanten (Tesnier)

    Diese beiden Aktanten sind also unmittelbar an das Verb gebunden; das Verb hat dafür Bindungsstellen...

    Wie sieht das aus bei einem Satz wie Ich // wohne // hier // schon lange., d. h. genauer: mit einem Element wie ... schon lange.? Das ist ja nun offensichtlich nicht "unmittelbar" an das Verb gebunden; man kann es aber hinzufügen, "wenn man möchte"...

    Solche nicht unmittelbar zum Verb gehörenden, eben nur "möglichen" Elemente nennt man Circumstanten (od. Zirkumstanten). Diese Begriffe gehen auf den Franzosen Tesnier zurück.

    7.2.3 fakultative und obligatorische Aktanten

    Also könnte man einfach sagen, Aktanten seien die Teile, die unbedingt ergänzt werden müssen und Zirkumstanten diejenigen, die eben nicht unbedingt nötig sind, um einen grammatikalisch korrekten Satz zu erhalten? Leider nein... so einfach iss´es nicht!

    Man muß vielmehr die Aktanten noch unterteilen in die sog. obligatorischen Aktanten, eben die (zur Bildung eines akzeptablen Satzes) zwingend notwendigen, und die fakultativen Aktanten; das sind solche Elemente, die zwar auch "irgendwie unmittelbar" an das Verb gebunden sind, aber eben doch u. U. auch wegbleiben könne, ohne den Satz völlig zu "verstümmeln".
     
     

    Beispiel: "beißen"

    (A1 Der Hund // beißt //A2 den kleinen Jungen.)

    1. Zweiwertig! 1 obligatorisch, 2 fakultativ

    2. d. h. der erste Aktant (A1) kann nicht weggelassen werden, der zweite (A2) schon.
    3. 1. Aktant: Nominalphrase Nominativ

    4. 2. Aktant: Nominalphrase Akkusativ
    5. 1. Aktant: tierisches (anim.) oder menschliches Lebewesen (bel.)

    6. 2. Aktant: physikalisches Objekt

    Noch ein Beispiel: "stehlen"

    (A1 Der Dieb // stiehlt //A2 der alten Frau //A3 ihre Perlenkette)

    1. Dreiwertig! 1 obligatorisch, 2 + 3 fakultativ
    2. 1. Aktant: Nominalphrase Nominativ

    3. 2. Aktant: Nominalphrase Dativ
      3. Aktant: Nominalphrase Akkusativ.
    4. 1. Aktant: menschlich

    5. 2. Aktant: menschlich (z. B. die Frau) oder menschl. Einrichtung (Geschäft, Museum...)
      3. Aktant: Gegenstand, Sache...

    Und noch eins: "spenden"

    (A1 Ich // spende //A2 tausend Mark //A3 an Brot für die Welt.,

    A1 Familie Müller // spendt //A3 dem Roten Kreuz //A2 drei Wolldecken., ...)

    1. Dreiwertig! 1 obligatorisch, 2 + 3 fakultativ.
    2. 1. Aktant: Nominalphrase Nominativ

    3. 2. Aktant: Nominalphrase Akkusativ
      3. Aktant: Nominalphrase Dativ oder Präpositonalgruppe
    4. 1. Aktant: menschlich

    5. 2. Aktant: physikalisches Objekt (bzw. dadurch, z. B. Banknoten, ausdrückbar)
      3. Aktant: menschlich (direkt = Einzelperson oder indierekt = Organisation)

    Es ist unmittelbar einleuchtend, daß der erste Aktant obligatorisch ist: Einen Spender brauchen wir, den kann ich nicht weglassen, sonst wird der Satz falsch. Die beiden anderen sind fakultativ - einer kann immer weg bleiben.

    7.2.4 Lesarten eines Verbs

    Was wäre denn dann aber (Achtung: "Bananenschale"!) mit dem Satz Ich spende Blut. (offensichtlich zweiwertig...)?! Oder mit dem Verb glauben und Sätzen wie

    1. A1 Ich // glaube //A2 an Gott.
    2. A1 Ich // glaube //A2 Du spinnst!
    3. A1 Ich // glaube //A2 dir, //A3 daß Du unschuldig bist.???

    Ist das nun zwei- oder dreiwertig?!

    Betrachten wir zunächst einmal jeden Satz einzeln:

    1.I zweiwertig, beide Aktanten obligatorisch

    1.II 1. Aktant: Nominalphrase Nominativ
    2. Aktant: Präpositionalgruppe

    1.III 1. Aktant: menschlich
    2. Aktant: Abstraktum (Ideologie, höheres Wesen ...)

    2.I zweiwertig, beide Aktanten obligatorisch

    2.II 1. Aktant: Nominalphrase Nominativ

    2. Aktant: Relativsatz

    2.III 1. Aktant: menschlich

    2. Aktant: Sachverhalt

    3.I dreiwertig, 1. + 2. Aktant obligatorisch, 3. Aktant fakultativ

    3.II 1. Aktant: Nominalphrase Nominativ

    2. Aktant: Nominalphrase Dativ

    3. Aktant: Relativsatz

    3.III 1. Aktant: menschlich

    2. Aktant: menschlich

    3. Aktant: Sachverhalt

    Ja was denn nu´?!

    Ganz einfach: Das gleiche Verb kann verschiedene Funktionen / Bedeutungen, verschiedenen Lesarten haben! Und jede muß ich eben einzeln beschreiben. D. h. ich muß meinen Fragenkatalog um die Frage nach der Lesart erweitern:

    1. Gibt es mehrerer Lesarten? Wenn ja: Welche liegt vor?
    2. Wie viele Bindungsstellen hat das Verb? (= wieviel-wertig ist das Verb?)
    3. Wie lassen sich die Segmente morphosyntaktisch beschreiben?
    4. Wie lassen sich die Segmente semantisch / inhaltlich beschreiben?

    Und schon ist alles kein Problem mehr! Von spenden gibt´s eben zwei Lesarten und von glauben sogar derer drei (ja ja, mit dem Glauben ist das halt so eine Sache – da kann man nie genau sagen, was das ist...).

    Weitere Beispiele für Verben mit mehreren Lesarten wären schreiben oder kochen:

    Schreiben kann die Lesart "von Beruf Schriftsteller sein" haben – dann ist es einwertig:

    A1 Ich //schreibe. – A1 ist natürlich obligatorisch (Nominalphrase Nominativ)

    Es kann die Lesart haben "schriftstellernd in diesem oder jenem Ressort tätig sein" – dann ist es zweiwertig:

    A1 Ich // schreibe //A2 Gedichte – In diesem Sinne sind A1 und A2 hier obligatorisch.

    Es kann die Lesart haben "für jemdn. eine Nachricht verfassen" – dann ist es sogar dreiwertig:

    A1 Ich // schreibe //A2 ihm //A3 einen Brief.

    A1 Der Student // schreibt //A2 eine Hausarbeit //A3 für den Professor. (...oder hast Du tatsächlich schon mal was für Dich selbst geschrieben?!) – Hier ist wieder nur A1 (Nominalphrase Nominativ, menschlich) obligatorisch, A2 (Nominalphrase Dativ, direkt / indirekt menschlich) und A3 (Nominalphrase Akkusativ, Nachricht i. w. S.) sind fakultativ, wobei das gleiche gilt wie im Beispiel spenden oben: Einer der beiden fakultativen Aktanten A2 und A3 muß folgen; ich kann sowohl sagen Ich schreibe ihm – dann ist der Brief automatisch mit gemeint; oder ich kann sagen Ich schreibe einen Brief – daß der dann auch einen Empfänger hat liegt in der Natur der Sache und kann deshalb wegbleiben; ich kann aber nicht sagen Ich schreibe. – In dieser dritten Lesart des Verbs schreiben wäre der Satz unvollständig; oder ich würde "unversehens in die erste Lesart hineinschlittern", die ich aber gar nicht meine.

    Bei kochen liegt der Fall ähnlich: Hier gibt zwei (oder drei?) Lesarten:

    1. kochen i. S. v. "den Siedepunkt erreicht haben":

    A1 Das Wasser // kocht! Gießt Du mal den Tee auf?

    2. kochen i. S. v. "eine Mahlzeit zubereiten":
    A1 Die Mutter // kocht //A2 das Mittagessen ( - so gehört sich das!)
    Und? Was machst Du grad? - A1 Ich koch´ // A2 (grad) was!

    3., eventuell: kochen i. S. v. "sehr verärgert sein":
    A1 Ich // koche (A2 vor Wut?)! – Hier wurde im Seminar keine eindeutige Unterscheidung getroffen, ob das eine eigene Lesart ist oder unter eine andere subsumiert werden kann.

    Ich würde für letzteres, und zwar für die Subsumierung unter die erste Lesart plädieren – denn ich hebe mit dem Ausdruck "Ich koche!!!" metaphorisch (und dieser Metaphorik bin ich mir durchaus bewußt, das war der Streitpunkt im Seminar) auf die inhaltlichen Qualitäten der ersten Lesart ab: Ich meine nicht, daß ich mich selbst gerade zubereite (das wäre die zweite Lesart), sondern daß ich den mentalen Siedepunkt erreicht habe und ich gleich vor Wut "überschäume" (noch ´ne Metapher!), d. h. die angestaute Energie unkontrolliert aus mir herausbricht wie die überschäumende Milch aus dem Topf – das "vor Wut" wäre dann kein Aktant, sondern eben nur Circumstant, der eben die metaphorische Qualität explizit macht.

    7.2.5 Sonderfall "Zwangsplural"

    Wie steht´s mit Verben wie zusammenstoßen? Sowohl der Satz A1 Wir // sind zusammengestoßen als auch der Satz A1 Ich // bin //A2 mit ihm // zusammengestoßen ist korrekt. Der erste Satz würde nahelegen, daß dieses Verb offenbar nur einen obligatorischen Aktanten A1 hat. Andererseit kann aber natürlich beim zweiten Satz A2 nicht wegbleiben. Ich bin zusammengestoßen ist einfach kein akzeptabler deutscher Satz. Und zwei verschiedenen Lesarten sind´s auch nicht – das Verb hat beide Male exakt die gleiche Bedeutung!

    Was nun?

    Der Haken ist: Es gibt bestimmte Verben, die ihrem semantischen Wesen nach nur im Plural existieren könne, Verben, zu denen zwei Handelnde gehören ohne daß man sagen könnte (wie bei Ich glaube dir, daß... , Ich schenke dir ... , Ich spende dir ... ), der eine sei der Aktive, der Täter (der Glaubende, der Schenkende, der Spendende...), der andere der Passive, mit dem etwas getan wird (der dem geglaubt wird, der der beschenkt wird, der dem gespendet wird...): Ein solches Verb ist zusammenstoßen – da kann man eben nicht sagen der eine sei der Aktive, der "Zusammenstoßende" und der andere der Passive, der "Zusammengestoßene"; zu einem Zusammenstoß gehören eben zwei. Weitere Beispiele hierfür wären streiten, kämpfen etc.

    Solche Verben sind also einwertig, sie erfordern nur einen Aktanten, da aber eben in zwei Nominalphrasen auseinanderfallen kann.

    7.2.6 Nullwertige Verben

    Und noch ´ne "Bananenschale": Was ist mit Wörtern wie regnen, schneien... und Sätzen wie Es regnet, Es schneit...?

    Ganz klar: Diese Verben sind einwertig! Oder?

    Hm. Wenn man sich die obigen Beispiele so anschaut, so fällt auf, daß man die einzelnen Aktanten auf der paradigmatischen Ebene durch nahezu unendlich viele andere Aktanten der selben (morphosyntaktischen und inhaltlichen) Art ersetzten konnte (der gute alte Substitutionstest). Das ist offenbar ein Merkmal eines Aktanten: Er ist Teil einer großen Menge gleichartiger Aktanten.

    Im Fall der Verben regnen, schneien usw. trifft das aber nicht zu! Da gibt´s zum Es keine Alternative. Es ist quasi eine "Pseudo-Nominalphrase", ein ganz bestimmtes Morphem, das fest an das Verb gebunden ist; es bindet nicht an eine vom Verb eröffnete Bindestelle. Deshalb nennt man solche Verben nullwertig. Dazu gehören alle Witterungsverben.

    7.2.7 Die Valenzen der deutschen Verben.

    Bisher hatten wir gesagt, es gebe im Deutschen ein-, zwei- und dreiwertige Verben. Jetzt müssen wir also noch die nullwertigen hinzunehmen.

    Ja und was ist denn dann mit einem Satz wie A1 Er // legte //A2 ihr //A3 die Hand //A4 auf die Schulter.?!?! Da ist legen doch vierwertig!!! Oder? (Achtung: Schon wieder ´ne Bananenschale!)

    Nein, isser nicht! Der ist nur unnötig kompliziert konstruiert: Man kann die Konstruktion vereinfachen zu A1 Er // legte //A2 die Hand //A3 auf ihre Schulter. Das ist exakt die gleiche Aussage, nur die Konstruktion wurde verändert.

    Es bleibt also dabei: Im Deutschen gibt es null-, ein-, zwei- und dreiwertige Verben.

    7.2.8 Semantische Rollen (Fillmore)

    Die bisherige Betrachtung, d. h. v. a. die inhaltliche Beschreibung der einzelnen Aktanten eines Satzes hat einen Schwachpunkt: Sie beschreibt die Aktanten nach inhaltlichen Merkmalen, die für die Bedeutung der Aussage oft nebensächlich sind. Wir erinnern uns – das war das Beispiel mit dem Richter: Bei dem Satz A1 Der Dieb // stiehlt //A2 der alten Frau //A3 ihre Perlenkette (s.o.) ist es doch letztlich egal, daß der Dieb und die alte Frau beide menschlich sind; das ist zwar wahr, aber nicht im Mittelpunkt des Interesses. Wichtig ist die Frage, wer der Täter und wer das Opfer ist – wer also bestraft werden soll.

    Die Beschreibung der Aktanten nach solchen Kriterien wurde von Fillmore propagiert. Er prägte für diese Ebene der syntaktischen Beschreibung der Satzteile den Begriff der Semantischen Rollen. So hat z. B. im obigen Beispiel der Dieb die semantische Rolle "Agens" und die alte Frau hat die semantische Rolle "Patiens".

    Diese semantischen Rollen sind universell (od. universalistisch), d. h. in allen Sprachen der Welt in dieser Form zu finden. Es gibt ca. sieben bis neun verschiedenen semantische Rollen; mit diesen lassen sich alle Sätze aller Sprachen syntaktisch beschreiben. Beispiele:

    Das Geschehen wird bei Fillmore also wie eine Bühnenszene beschrieben. Man spricht deshalb auch von der Semantischen Szene; der Satz wird beschrieben als ein Gefüge von semantischen Rollen.

    7.2.8.1 Exkurs: Genus verbi und semantische Rollen.

    Im Deutschen gibt es drei sog. Genus verbi, nämlich 1. Aktiv, 2. werden-Passiv, 3. bekommen-Passiv.

    Das Genus verbi eines Satzes wirkt sich auch auf die semantischen Rollen aus: Der Agens kann z. B. in den Passivsätzen ausgeblendet werden (Der alten Frau wurde ihre Perlenkette gestohlen.)

    Die verschiedenen Generei verbi geben also die Möglichkeit, ein und die selbe semantische Rollenstruktur in verschiedener Weise zu realisieren.
     
     

    7.2.9 Diathese...

    Diathese ist also die Abbildung von etwas aus Ebene A (die universell für alle Sprachen ist) in Ebene B (die für die verschiedenen Nationalsprachen jeweils individuell ist)!!!

    So sind z. B. bestimmte Reflexiv-Konstruktionen ("Das Buch liest sich gut.") und modale Infinitive ("Das Buch ist gut zu lesen.") für das Deutsche individuell.

    7.2.10 ...und was bewirkt sie?

    Wozu gibt es nun aber die verschiedenen Möglichkeiten, ein und die selbe semantische Rollenstruktur auf verschiedenen Weise auszudrücken? Dies ist ein in allen Sprachen zu beobachtendes Phänomen - das ist ein Indiz dafür, daß es mehr ist als nur eine "Laune" der einzelnen Sprachen; dafür gibt es offenbar einen guten Grund...

    7.2.10.1 Exkurs: Das Stern-Strich-Experiment

    Ein Bild dieser Art

    *



     
     
     
     

    beschreiben die meisten Menschen mit einem Satz wie "Der Stern steht über dem Strich." - nur wenige würden sagen "Der Strich liegt unter dem Stern."

    D. h. die meisten Menschen machen hier den Stern zum Subjekt des Satzes. Woran orientiert man sich aber bei diesem Vorgang (= bei dieser Diathese)? Was macht man gemeinhin zum Subjekt?

    Dafür gibt es wiederum allgemeingültige, universelle Gesetzmäßigkeiten:

    - Menschen sind in ihrer Wahrnehmung an der Schwerkraft orientiert, d. h. sie ordnen "von oben nach unten" an. Deshalb ist in solchen Bildern das oben stehende Element meistens das Subjekt.

    - Menschen neigen dazu, die punktuelle Figur Stern in den Vordergrund zu stellen und den Strich als Hintergrund und Horizont dafür zu betrachten. Deshalb ist der Stern Subjekt.

    Kognitionswissenschaftlich ausgedrückt: Der höchstpräferierte Gegenstand, der mit dem höchsten Salience-Wert wird zum Subjekt! Also bedeutet z. B. der Wechsel von Aktiv nach Passiv einen Wechsel in der Präverenzordnung, einen Wechsel der kognitiven Prävalenz / Salienc.
     
     

    8. Block

    (... war ich nicht anwesend; es folgt also nur eine kurze Erklärung des Modells; für Details wie die exakte Einordnung der Diathese in diese Modell bitte bei Herrn Schecker rückfragen oder auf den eigenen Kopf vertrauen.)

    8.1 Das Levelt-Modell
     

    9. Block

      1. Klausur: "Diathese?"

    Sinngemäß:

      1. Referate

    Da die Referate gewissermaßen "Zusatzstoff" sind und nicht unmittelbar in den Bereich einer Einführung in die Linguistik gehören, gehe ich auf sie nicht ausführlich ein, sondern skizziere teilweise nur kurz die Thematik.

    9.2.1 Der Genitiv

    Frage: Wie sinnvoll ist die Beschäftigung mit dem Genitiv / die Beschreibung der verschiedenen Funktionen des Genitivs so, wie sie die gängige Schulgrammatik vornimmt?

    Die Schulgrammatik beschränkt sich gewöhnlich darauf, die verschiedenen Formen des Genitivs zu unterscheiden und zu definieren, also z. B. Genitivus possesivus, Genitivus …

    Auf diese Weise läßt sich eine Liste von 14 und mehr verschiedenen Genitiven erstellen – es fragt sich nur, wozu das gut sein soll. Solche Listen haben rein katalogisierende Funktion, sie nützen weder einem Native speaker noch einem/r AusländerIn, der/die die deutsche Sprache erlernen will.

        1. Wozu Syntax?

        2.  

           
           
           
           
           
           
           
           
           

          Ausgangsfrage (bewußt provokant formuliert): Wozu brauchen wir überhaupt Syntax? Man kann sich doch auch sehr gut mit "syntaxlosen" Äußerungen verständigen!

        3. Assoziative Entgleisungen bei Schizophrenie

    Schizophrenie zeigt sich auch auf der sprachlichen Ebene, durch sog. assoziative Entgleisungen. Was meint das?

    Es ist völlig normal, daß wir bei allem was wir hören oder sagen zunächst "unterschwellig", "unbewußt" verschiedene Assoziationen aufbauen, von denen die meisten – eben bis auf diejenige, die im laufenden Gesprächskontext gerade tatsächlich relevant sind – kurz darauf wieder "deaktiviert" werden (d. h. die unterschwellige Aktivierung der Neuronen, die für die Darstellung dieser im Moment unbrauchbaren Assoziationen zuständig sind, wird rasch wieder bis zum Ruhepotential abgebaut).

    Beispiel: Wenn ich mich gerade mit einer Freundin über die Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes, die am kommenden Samstag, 15.01., stattfinden wird, und ein passendes Geschenk unterhalte, fällt mir vielleicht im Zusammenhang mit diesem Gespräch ein – natürlich ohne daß ich das ausspreche – daß ja auch Erbonkel Fritz bald Geburtstag hat und ich mir tunlichst ein Geschenk überlegen sollte, wenn ich ihn bei Laune halten will; daß ich mit diesem Freund vor kurzem in einem tollen Film war; daß ich im vergangenen Jahr an diesem Datum eine Reise begonnen habe; …

    Weiteres Beispiel: Wenn ich einen Satz wie "Er wollte die Birne herausschrauben." höre, weiß ich erst nach dem letzten Wort, welche Birne – der Leuchtkörper oder die Frucht? – gemeint ist. Bis zu diesem Zeitpunkt sind beide möglichen Varianten unterschwellig aktiv. Erst wenn die anfängliche Ambiguität vereindeutigt wurde (in diesem Fall durch das Verb), wird die unpassende Variante ausgeblendet (d. h. die Teilaktivierung klingt ab, s.o.) und die in diesem Fall gültige voll aktiviert.

    Solche unterschwelligen Assoziationen bleiben meistens unbewußt – sie bestehen aber in jedem Fall und bei allem was wir hören und sagen in irgendeiner Form.

    Außerdem strömen ständig verschiedenste Sinneseindrücke aus der Umwelt auf uns ein: Hintergrundgeräusche wie Straßenlärm, Wind, Gespräche vor der Tür..., visuelle Eindrücke wie die Bewegung der Blätter eines Busches im Wind, Fußgänger auf der anderen Straßenseite usw. – auch solche Dinge bewirken zunächst immer eine gewisse unterschwellige Aktivierung, sie werden aber normalerweise sehr rasch ausgeblendet, ohne bis in unser Bewußtsein vorzudringen.

    Für gesunde Menschen ist das alles also kein Problem: Die unterschwellige Aktivierung der nicht benötigten Bedeutung und sonstigen Sinneseindrücke wird innerhalb weniger Millisekunden abgebaut, wie sich in Primingexperimenten zeigen läßt. Gedächtnisinhalte wie diese Assoziationen zum Thema Geburtstag / Freund / 15. Januar... werden ebenfalls wieder deaktiviert und haben keinen "Zugang" zum aktuell laufenden Gespräch. Geräusche und visuelle Eindrücke nehmen wir gar nicht bewußt war.

    Hierfür sind diverse Selektionsmechanismen verantwortlich, die im gesunden Gehirn ständig ablaufen. Sie ermöglichen die Konzentration auf ein bestimmtes Thema und schützen uns vor Überforderung durch zu viele Sinneseindrücke (denn ein Zuviel an Wahrnehmung wirkt sich als Streß mit all seinen Symptomen aus).

    Diese Mechanismen funktionieren bei Schizophrenen nicht mehr / nur noch unzureichend. D.h. sie werden durch all diese Assoziationen und fortwährenden Sinnesreizungen förmlich überschwemmt und überfordert. Sie können deshalb in einem Gespräch nicht mehr selektiv vorgehen, schweifen somit sehr schnell vom vorliegenden Thema ab und produzieren scheinbar völlig unpassende und zusammenhangslose Äußerungen (man erinnere sich an die Nacherzählung der Fabel mit dem Esel, in der dann plötzlich die Pamir auftaucht…). Die Patienten wissen bald auch nicht mehr, was der Gesprächspartner tatsächlich gesagt hat und was seine eigenen Gedanken und Assoziationen dazu waren. Das kann dazu führen, daß er etwas, was er selbst gedacht hat, seinem Gesprächspartner als Äußerung unterstellt – oder daß er seine eigenen Gedanken für die Stimmen unsichtbarer Personen hält. Der überschießende Reizeinstrom führt ebenfalls zu ständigen Mißdeutungen der Situation – an sich unwesentliche, zufällig auftretende Details werden als relevant / bedrohlich / rätselhaft mißdeutet; auf diese Weise kann es z. B. zu Wahnvorstellungen und Verfolgungsängsten kommen.

    10. Block
     

      1. Wiederholung: Levelt-Modell

      2.  

         
         
         
         
         
         
         

        Funktion des Lexikon? Das Lexikon bei Levelt ist zweiseitig: Es enthält

        1. semantische Inhalte i. w. S. (lemmas) und

        2. Ausdrucksseiten (forms). Zunächst erfolgt (bei der Sprachproduktion?) der Zugriff auf die Inhalte.

      3. Neuer Stoff: Lexikalische Semantik / Semantische Syntax

    10.2.1 Die Inhaltsseite des Leveltschen Lexikon (lemmas)

    Was ist nun mit "semantischen Inhalten i. w. S." (s. o.) gemeint?

    Die lemmas des Levelt-Modells enthalten zum einen so etwas wie das de Saussursche concept, also ein Wissen / eine Vorstellung der Dinge der realen Welt, auf welche sie sich beziehen; zum anderen enthalten sie aber zusätzlich noch einige weitere grammatische Informationen: z. B. das grammatische Geschlecht des Wortes, seine Wertigkeit (vgl. Valenzgrammatik), die Wortart (Nomen / Adjektiv / Verb...) etc.

    Wenn man also bei der Sprachproduktion auf einen solchen Inhalt zugreift, aktiviert man immer neben der Bedeutung auch einige grammatische Informationen, die die weitere Bearbeitung, d.h. die Einbindung in einen Satz maßgeblich mitbestimmen (bzw. die nähere Form dieses Satzes bestimmen).

    Bsp.: das Verb "stehlen"

    Wenn ich dieses Wort aus meinem leveltschen Lexikon abrufe, um einen entsprechenden Sachverhalt darzustellen, aktiviere ich nicht nur die Vorstellung von einer bestimmten Handlung "einen Gegenstand dem rechtmäßigen Besitzer wider dessen Willen zu Zwecke der dauerhaften Aneignung wegnehmen" o. ä., sondern auch die Information, daß es sich bei diesem Wort um ein Verb handelt und daß diese Verb dreiwertig ist, also drei offene Bindungsstellen mit sich bringt. Mit der Aktivierung dieses Wortes habe ich mich also quasi schon "verpflichtet", noch (mindestens) eine geeignete Nominalgruppe Nominativ (z. B. "Der Dieb"), eine Nominalgruppe Dativ (z. B. "der alten Frau") sowie eine Nominalgruppe Akkusativ (z. B. "die Perlenkette") hinzuzufügen.

    Durch die Abwahl eines solchen lemmas wähle ich also automatisch eine bestimmte syntaktische Struktur mit - man spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch von lexikalisch basierter Syntax oder lexikalisch basierter Grammatik.

    Außerdem enthält diese Inhaltsseite auch noch "Adressen", d. h. Informationen darüber, wo die zugehörige Wortform zu finden ist; sonst müßte man ja jedesmal bei der Suche nach der zugehörigen Wortform (denn die konkrete Form gehört ja nicht zum "lemma", das ist dann die "form"!) das ganze Formenregister durchsuchen, was viel zu viel Zeit in Anspruch nähme.

    Zusammenfassend: Das leveltsche Inhaltslexikon enthält also drei verschiedene Informationstypen:

    1. das concept ("Bedeutung"...)

    2. grammatische Informationen (z. B. Wortart, grammatisches Geschlecht, Valenz...)

    3. Adressen. ("Speicherplatz" der einzelnen Wortformen)
     
     

    Natürlich genügt es nicht, nur eine strukturelle Verknüpfung zwischen den lemmas und den form mittels der Adressen zu haben: Was hilft es, daß man bei der Sprachproduktion die forms theoretisch schnell finden kann, wenn man zunächst einmal Ewigkeiten braucht, um überhaupt den geeigneten inhaltlichen Eintrag (wir erinnern uns: "Zunächst erfolgt der Zugriff auf die Inhalte", s. o.) zu finden?!

    Dieses Lexikon hat also auch eine inhaltliche Struktur, semantisch verwandte Bereiche sind irgendwie miteinander verknüpft. Alle diese semantisch assoziierten Inhalte werden automatisch ebenfalls "unterschwellig aktiviert", wenn ein bestimmter Inhalt abgerufen wird; sie stehen dann schnell zur Verfügung. Die älteste Theorie, die eine solche inhaltliche Struktur beschreibt, ist die

    10.2.2 Wortfeldtheorie

    Beispiel Wortfeld "Verwandtschaftsbeziehungen"
     


     

    - Die in < > stehenden Items (Generation, Verwandtschaftsgrad, Geschlecht) (und auch diverse allen Begriffen dieses Wortfelds gemeinsame Items wie "konkret", "belebt", "menschlich", s. u.) sind semantische Merkmale der Begriffe, sog. Seme.

    - Die Seme einer Ebene stehen zueinander in Opposition (also: <direkte Verwandtschaft> steht in Opposition zu <indirekte Verwandtschaft> / <-2 Generation> steht in Opposition zu <-1 Generation> steht in Opposition zu <gleiche Generation> steht in... / <a > steht in Opposition zu <` >)
     
     

    Weiteres Wortfeld-Beispiel:
     

    legen liegen
    stellen stehen


     

    - Wenn man die beiden Wortfelder miteinander vergleicht, fällt auf, daß die Wörter eines Wortfeldes immer zu einer Wortart gehören, also entweder Nomen oder Verb oder...
     
     

    Jeder einzelne Eintrag in einem Wortfeld ist also durch eine Liste verschiedener Merkmale (Seme) genau determiniert. Hierbei unterscheidet man:

    distinguishers, das sind die Merkmale, die die einzelnen Begriffe eines Wortfelds voneinander abgrenzen; für das Beispiel Bruder also <direkte Verwandtschaft>, <`>, <gleiche Generation>.

    klassematische Merkmale, das sind allen Begriffen dieses Wortfelds gemeinsame Merkmale; für das Beispiel Bruder (wie auch für alle anderen Begriffe aus dem Wortfeld Verwandtschaftsbeziehungen also "konkret", "belebt", "menschlich" s. o.).

    Eine solche Sem-Liste, die einen bestimmten Begriff determiniert, nennt man ein Semem.
     
     

    Ein Semem ist also eine

    spezifische Art der Bedeutungsbeschreibung

    unter Rückgriff auf ein Wortfeld!!!






    ... und zwar eine sog.

    10.2.3 intensionale Bedeutungsbeschreibung

    Das ist:

    - eine systeminterne Beschreibung

    - nach dem "Verhält-sich-zu...-Prinzip".

    Heißt konkret:

    - Systemintern ist eine derartige Beschreibung, weil sie sich vollzieht mit Blick auf und in Abgrenzung zu den anderen Begriffen dieses Systems / Wortfeldes. Gut strukturalistisch: "Jedes einzelne Element eines Wortfeldsystems ist - mal wieder - das, was alle anderen Elemente dieses Wortfelds nicht sind!" (...womit wir wieder bei de Saussure wären...).

    - "Verhält-sich-zu...-Prinzip": "Bruder verhält sich zu Schwester wie Vater zu Mutter wie Opa zu Oma..."

    Am Beispiel des Währungssystems:

    Eine intensionale Beschreibung wäre eine Beschreibung der Art: "1 Pf. ist der hundertste Teil von 1 DM; 2 Pf. sind der fünfte Teil von 10 Pf.; 10 DM sind der zehnte Teil von 100 DM..." etc.pp.: Der Wert der einzelnen Münzen und Scheine wird hier ausschließlich in Abhängigkeit / in Relation zu den anderen Münzen und Scheinen des Währungssystems beschrieben; de Saussure spricht hier regelrecht von der valeur eines Begriffs.

    Dinge wie "Kaufkraft", d. h. Dinge, die außerhalb des umgrenzten Systems liegen, bleiben bei einer derartigen Beschreibung außenvor - weil sie nämlich intensional ist.

    Für alle die´s immer noch nicht gemerkt haben: die intensionale Bedeutungsbeschreibung gehört in den Bereich des Strukturalismus!!! Sie umfaßt das, was de Saussures concept beinhaltet.
     
     

    Wenn es aber eine solche intensionale, systeminterne, dem Strukturalismus zuzuordnende Bedeutungsbeschreibung gibt, dann gibt´s natürlich - in Abgrenzung dazu - auch noch eine andere Art der Bedeutungsbeschreibung, nämlich die

    10.2.4 extensionale Bedeutungsbeschreibung

    Erwartungsgemäß umfaßt eine solche extensionale Beschreibung auch Dinge, die über das geschlossene System hinausgehen. Für unser Beispiel des Währungssystems wäre das z. B. ein Beschreibung des Typs "Für ein Zweimarkstück bekomme ich im Laden schon ein halbes Pfund Butter." - denn die Butter gehört definitiv nicht mehr zum Währungssystem, sie wird hier aber dazu herangezogen, den Wert des Zweimarkstücks zu beschreiben. Eine solche Bedeutungsbeschreibung gehört in den Bereich der Pragmatik.

    10.2.5 Das Kommunikationsmodell (Organon-Modell) von Bühler

    Bühler berücksichtigte in seinem Kommunikationsmodell nicht nur die konkrete Bedeutung, die ein bestimmtes Zeichen innerhalb eines Sprachsystems hat, sondern er bezog auch den Sprecher, den Hörer und die komunikative Situation mit in sein Modell ein. Er spricht in diesem Zusammenhang von den verschiedenen Funktionen, die ein sprachliches Zeichen / eine Aussage haben kann:

    Jakobson ergänzte noch folgende Funktionen:

    11. Block

    11.1 Wiederholung: Levelts Lexikon

    Geschwindigkeit... ...der Sprachverarbeitung und –produktion ist enorm! Nur denkbar durch vielfältige Formen der inhaltlichen Strukturierung der Sprache; eine davon ist die Strukturierung in

    Wortfelder: Diese zeichnen sich dadurch aus, daß in einem bestimmten Wortfeld immer nur eine Wortart enthalten ist. Die Strukturierung erfolgt dadurch, daß eine Opposition zwischen den Merkmalen besteht.

    Seme: Einzelne Merkmale, die den verschiedenen Elementen des Wortfelds zueigen sind

    Opposition Seme eines bestimmten Typs, die einem bestimmten Element eines Wortfelds zueigen sind, schließen für dieses Element alle anderen Seme des gleichen Typs aus. Bsp.: Wenn das Element "Bruder" aus dem Wortfeld "Verwandtschaftsbeziehungen" durch das Sem "gleiche Generation" des Typs "Generationenrelation" gekennzeichnet ist, dann können andere Seme des gleichen Typs, z. B. "eine Generation darunter", "zwei Generationen darüber", ... nicht gleichzeitig eine Eigenschaft des spezifischen Wortfeldelements sein: Diese Seme stehen sämtlich zueinander in Opposition.

    Analogie meint die Verhält-sich-zu- ... -wie- ... –Beziehungen: "Opa" verhält sich zu "Oma" wie "Vater" zu "Mutter" – zwischen den Wortpaaren Opa-Oma und Vater-Mutter besteht eine Analogie.

    Semem : Liste von Merkmalen, die einen bestimmten Eintrag (ein bestimmtes Element) eines Wortfeldes beschreibt.

    valeur: die de-Saussur´sche Bezeichnung für ein Semem; der "Wert" eines bestimmten Wortes, d. h. (gewagt formuliert): Die Summe charakteristischen Merkmale, die das concept diese Wortes ausmachen. Es handelt sich hierbei um eine intentionale Bedeutungsbeschreibung.

    11.2 Neuer Stoff / Vertiefung

    11.2.1 Extensionale vs. intensionale Bedeutungsbeschreibung

    Eine intensionale Bedeutungsbeschreibung beschränkt sich auf die Abgrenzung eines Wortes von allen anderen Elementen des gleichen Wortfeldes (das war die Sache mit den Währungseinheiten: 1DM ist 1/5 von 5 DM und 10x soviel wie 10 Pf etc.) sowie auf die "sachliche" Beschreibung der Bedeutung, d. h. auf die Auflistung typischer Merkmale.

    Eine extensionale Beschreibung umfaßt dagegen alles, was ich potentiell mit einem Wort bezeichnen (!!!) kann.

    11.2.2 Metasprachliche Ebene – Objektsprachliche Ebene
    und extensionale Bedeutungsbeschreibung

    Wir erinnern uns an die Grafik
     
     

    ______ Metasprachliche Ebene ___________

    "wahr", "schön", "Theorie" …
     
     

    ______ Objektsprachliche Ebene __________

    "Baum", "Stuhl", "Schnee" …
     
     

    ______ Ebene der realen Objekte __________ ...

    Baum, Stuhl, Schnee …
     
     

    - und was hat das nu´ mit extensionaler und intensionaler Bedeutungsbeschreibung zu tun?!

    Wir erinnern uns gleich noch mal: Wir haben ehedem schon festgestellt, daß zur metasprachlichen Ebene Wörter wie z. B. "wahr" gehören – diese sind "metasprachlich", weil sie sich ihrerseits auf andere Wörter / Aussagen (auf der objektsprachlichen Ebene) beziehen.

    Die Verwendung eines Wortes wie "wahr" setzt aber auch eine Wirklichkeit voraus, in der dieses Ding, auf den sich das Wort bezieht real – eben wahr - ist; und das wiederum setzt voraus, daß es auch die Möglichkeit – oder: eine denkbare andere Wirklichkeit… (!) – gibt, in der das selbe Ding eben unwahr ist – d. h.: Die Verwendung eines Ausdrucks wie "wahr" setzt bereits voraus, daß es für den/die Sprechende/n mehrere denkbare Wirklichkeiten gibt…

    Und damit sind wir schon bei einer Weiterentwicklung der extensionalenBedeutungsbeschreibung; dazu aber später.

    Zurück zur klassischen extensionalen Bedeutungsbeschreibung, die auch "wahrheitswertfunktionale Bedeutungsbeschreibung" genannt wird:
     
     

    Die extensionale Bedeutungsbeschreibung beschreibt nämlich,
    wie die Welt wäre, wenn die Aussage wahr wäre:
    "Die Aussage `Der Schnee ist weiß´ ist wahr genau dann, wenn der Schnee weiß ist."

    Alles klar?! Vermutlich nicht... also: Beispiel!

    "Der Schnee ist weiß."

    Intensional gedacht wird hier ein (sehr zentrales) Merkmal der Bedeutung von Schnee beschrieben; wohlgemerkt: weiß ist ein semantisches Merkmal des Konzepts Schnee – nicht des realen Schnees, der im Winter liegt; der mag u. U. auch weiß sein, das steht hier aber nicht zur Debatte. Entsprechend ist dieses semantische Merkmal des Konzepts auch unveränderlich, egal, was in der Realität möglicherweise vorfällt und den referierten realen Gegenstand dahingehend verändert, daß er diesem Konzept nicht mehr entspricht...

    Was aber, wenn "es nicht einfach schneit", sondern geäußert wird: (A): "Möglicherweise wird es schneien."? Oder "Wie das aussieht, muß es gleich schneien."?

    Der Sprecher unterstellt hier eine Vielzahl möglicher Welten; unter anderem gibt es eine mögliche Welt, in der (A) der Fall ist – dies ist (wie der Sprecher weiß) nicht unbedingt die reale Welt (aber im vorliegenden Fall (A) vermutlich die, die der Sprecher für die wahrscheinlichste hält)! Um das zu erfassen, benötigt man die extensionale Bedeutungsbeschreibung.

    11.2.3 Mögliche-Welten-Semantik

    Weil bei dieser Art von Semantik, die extensionale Bedeutungsbeschreibungen hervorbringt, (solange wir von Bedeutungsbeschreibungen reden, befinden wir uns immer – zumindest auch – auf dem Gebiet der Semantik!) mit verschiedenen Möglichkeiten bzw. Modellen der Wirklichkeit gearbeitet wird, nennt man sie auch Modelltheoretische Semantik oder Mögliche-Welten-Semantik.

    11.2.3.1 Möglichkeit - Notwendigkeit

    Die Mögliche-Welten-Semantik unterscheidet:

    1. Möglichkeit: (A) ist in (mindestens) einer möglichen / denkbaren Welt der Fall.
    2. Notwendigkeit: (A) ist in jeder möglichen / denkbaren Welt der Fall.

    11.2.3.2 Mögliche-Welten-Semantik und Weltwissen

    Zu einer Mögliche-Welten-Semantik gehört – trotz vielfältiger denkbarer Möglichkeiten – daß die Elemente des Weltwissens Geltung behalten: Man bezieht sich also immer auf das, was nach unserem Wissen darüber, wie die Welt aufgebaut ist, möglich erscheint.

    Bsp.: "Wenn der Stein in diesem Ring grün wäre, dann könnte er ein Smaragd sein."

    Heißt: Dieser nicht-grüne Stein ist offensichtlich zumindest in der realen Welt kein Smaragd, es ist aber eine Welt denkbar, in der er ein Smaragd wäre, und wenn dies der Fall wäre, dann wäre er auf jeden Fall grün: Wir beharren also auf unserm Weltwissen, das uns sagt, das Smaragde immer grün sind.

    11.2.3.3 Konjunktiv, Modaladverbien etc.

    Noch´n Beispiel: "Wenn Peter heute Morgen um 8:15 den Zug am Gare de l´ Est gekriegt hätte, dann wäre er heute Abend um kurz nach sechs in Freiburg am Bahnhof." – Auch dieser Satz ist – wie schon die letzten beiden Beispiele - nur richtig beschreibbar, wenn man die Mögliche-Welten-Semantik anwendet.

    Das Konzept einer Mögliche-Welten-Semantik ist also notwendig für die Beschreibung von Sprach-Modi wie Konjunktiv, Modaladverbien; eine solche extensionale Bedeutungsbeschreibung geht über einen normalen Aussagesatz hinaus und berücksichtigt mehrere Möglichkeiten.

    11.2.4 "Bedeuten" vs. "meinen"

    "Der Teufel soll dich holen!"

    "So eine dumme Kuh!"

    A zu B, der drei Stunden später als vereinbart kommt:

    "Du warst mir wirklich einen große Hilfe!"

    An solchen drastischen Beispielen wird sehr schnell klar, daß ein himmelweiter Unterschied zwischen der Bedeutung einer Aussage und dem, was damit gemeint ist, bestehen kann:

    Die Bedeutung von "Teufel" ist ungefähr: "Herr der Finsternis, Höllenfürst, der gefallene Engel Luzifer…"; die Bedeutung von "Kuh": "Paarhufiges, größeres Säugetier, typisches Nutztier, gibt Milch etc. pp". "Große Hilfe" bedeutet, daß der Angesprochene wesentlich zum Erreichten beigetragen hat… Das ist mit Sicherheit nicht das, was der Sprecher sagen wollte bzw. was für ihn bei seiner Äußerung im Mittelpunkt stand …

    Wenn man eine solche Äußerung wie die obigen tut, ist diese konkrete Bedeutung der Wörter eher nebensächlich (wohlgemerkt: nicht gleichgültig – man denke an das "doofe Sofa"; einzelne Aspekte der ursprünglichen Bedeutung spielen am Rande schon noch eine Rolle.) oder (im Falle der Ironie) relevant allenfalls insofern, als das genaue Gegenteil dessen, was das Gesagte bedeutet, gemeint war: Man meint natürlich nicht, daß der andere ein "größeres, paarhufiges, milchgebendes Nutztier" sei - sondern man will ihn beschimpfen; man meint nicht, daß der andere tatsächlich eine wertvolle Unterstützung war – sondern eben das Gegenteil.

    Kurz: Ausdrücke haben eine bestimmte Bedeutung – aber was gemeint ist wenn ein Sprecher sie anwendet, kann u. U. etwas ganz anderes sein.

    11.2.5 Semantik vs. Pragmatik

    Wenn man von meinen und bedeuten redet, bewegt man sich zwischen Pragmatik und Semantik:
     
     

    "Was macht ein Sprecher mit …?" - "wozu?" èPragmatik

    "Was mein er, wenn / indem er sagt …?"

    à Beschreibung dessen, was ich mit einem Ausdruck mache,

    / meine, was ich "sprechhandle".

    êé

    "Ausdrücke haben eine Bedeutung" èSemantik

    à Beschreibung der Bedeutung
     
     

    Es besteht also offenbar eine Interrelation zwischen der Bedeutung einerseits und dem, was man damit meint andererseits.
     
     

    Beispiel: "Es zieht!"

    Bedeutung: Wenn man nur die Bedeutung beschreibt, kann man darüber nicht mehr sagen, als daß hier eine Aussage über bestimmte Luftverhältnisse in einem Raum getroffen wir, etwa daß die Luft aufgrund eines offenstehenden Fensters in Bewegung ist… Auf das Organon-Modell (s.o.) übertragen: Die Bedeutungsbeschreibung befaßt sich also offenbar nur mit der referentiellen Funktion der Sprache.

    Es ist aber wohl klar, daß diese (sicherlich zutreffende) Bedeutung in 99% der Fälle, da diese Äußerung getätigt (!!!) wird, nicht das eigentlich für den Sprecher Wesentliche erfaßt…

    Gemeint ist: Der Sprecher will mit solchen Äußerungen normalerweise sein Mißbehagen über diesen Sachverhalt ausdrücken (nota bene!) (Organon-Modell: Emotive bzw. expressive Funktion), und er will vermutlich den Adressaten seiner Aussage dazu veranlassen, hier Abhilfe zu schaffen indem er z. B. das Fenster schließt (Organon-Modell: AppellativeFunktion).

    Die Wörter äußerung tätigen, ausdrücken und veranlassen weisen schon auf den Handlungsaspekt einer solchen Aussage hin. Dies fällt also in den Bereich der Pragmatik: Die Pragmatik betrachtet Sprache grundsätzlich als Handlung – "Sprechen ist Handeln!"
     
     

    Wenn ich also beschreibe, was ein Sprecher mit Ausdrücken einer Sprache macht, dann beschreibe ich grundsätzlich Handlungen. Hier muß die Intention enthalten sein, der der Sprecher folgt!

    Muster der Handlungsbeschreibung:

    Frage: - "Wozu?"

    Antwort: - "um zu …" – Intention, Zielsetzung...: "Um zu beschimpfen / ein Stück Wirk- lichkeit wiederzugeben / …"

    Merke:

    Ausdrücke haben also eine Bedeutung – aber: Ausdrücke bezeichnen nichts!!! Es ist der Sprecher, der die Dinge bezeichnet! (Sprechen ist Handeln, und handeln kann nur eine Person.). Die Fragestellung der Pragmatik ist immer auch, mit welcher Intention oder zu welchem Zweck der Sprecher dies tut.

    11.2.6 Exkurs: Prototypensemantik

    (siehe Handout!)

    Anmerkungen:

    12. Block

    12.1 Wiederholung:

    Gab´s heut nicht, bzw. wurde durch ein umfassendes Protokoll geleistet, welches die gesamte vergangene Stunde zusammenfaßte.

      1. Nachtrag zur vergangenen Stunde

    12.2.1 Semanalyse und intensionale Bedeutungsbeschreibung

    Die Semanalyse spielt sich auf der objektsprachlichen Ebene ab! Die Dinge der Metasprachlichen Ebene lassen sich nicht mehr / nur mangelhaft durch die Auflistung von Semen beschreiben. Die Semanalyse gehört in den Bereich der intensionalen Bedeutungsbeschreibung!

    Die extensionale Bedeutungsbeschreibung geht über diese und über die Semantik hinaus und berührt bereits den Bereich der Pragmatik.

    12.2.2 Die Modalitäten der Mehrere-Möglichkeiten-Semantik

    Man muß drei Modalitäten unterscheiden:

    1. Unmöglich: "In keiner denkbaren Welt ist x möglich."
    2. Möglich: "In mindestens einer denkbaren Welt ist x möglich."
    3. Notwendig: "In allen denkbaren Welten ist x der Fall."

    12.2.3 Pragmatik und Kontext

    Die Pragmatik, die sich ja eben auch bzw. v. a. für den / die SprecherIn interessiert und untersucht, was er oder sie mit seiner Aussage intendiert / bezweckt, kann auch den Kontext mit einbeziehen, in dem eine Aussage getroffen wird.

    Die Berücksichtigung des Kontexts schränkt dann natürlich auch die Möglichkeiten dafür ein, was mit einer Aussage gemeint war: "Wenn das hier aus Gold wäre, wäre es ganz schön wertvoll." – ohne Kontext betrachtet müssen hier immer mehrere Möglichkeiten angenommen werden (z. B. "Gold" ist der Fall vs. "Gold" ist nicht der Fall...); mit Blick auf den Kontext – z. B. der Sprecher hebt während des Sprechens seine ersichtlich aus Leder gefertigte Brieftasche hoch – werden die aktuell nicht zutreffenden Möglichkeiten aber ausgeblendet.



    Dieses Script wurde von Silke Maisch verfasst und von Kai Martin Wiegandt bearbeitet. Korrekturvorschläge sind willkommen unter kai_wiegandt@hotmail.com