Working Papers in Neurolinguistics and Neuroscience

Neuro 4:

Günter Kochendörfer: Vertiefung des Verständnisses von Alzheimer - Demenzen durch neuronale Modelle der Sprachverarbeitung (1998)

Wenn man, wie der Autor, Nichtraucher ist, kommt man bei der Lektüre von Arbeiten zu Alzheimer-Demenzen manchmal ins Grübeln.

Der heute wichtigste Erklärungsansatz für Alzheimer-Demenzen, die sogenannte Acetylcholin-Hypothese, besagt, daß es ein Mangel des Transmitters Acetylcholin ist, der die Symptome verursacht. Hieraus ergeben sich die einzigen bislang wirksamen medikamentösen Therapiestrategien, nämlich die Therapie mit Acetylcholinesterase-Inhibitoren, die die Verfügbarkeit von Acetylcholin im synaptischen Spalt verbessern sollen und der Einsatz von Stoffen, die sich aktivierend auf Acetylcholin-Rezeptoren der postsynaptischen Membran auswirken, dazu gehört Nikotin.

Es gibt eine Reihe von epidemiologischen Studien, in denen versucht wird, zu zeigen, daß durch Rauchen das Erkrankungsrisiko für Alzheimer-Demenzen gesenkt wird. Nikotinpflaster werden in der Therapie zur Verstärkung der Wirkung von Alzheimer-Medikamenten, also zum Beispiel Acetylcholinesterase-Inhibitoren eingesetzt (Fischer, persönliche Kommunikation). Es sind außerdem Medikamente in der Entwicklung, die sich speziell auf nikotinische Acetylcholin-Rezeptoren des Cortex und nicht auf die des peripheren Nervensystems auswirken (womit unerwünschte Nebenwirkungen vermieden werden sollen; vgl. z. B. Lippiello et al., 1997). Der klassische Acetylcholinesterase-Inhibitor Tacrin wiederum bewirkt eine "Restauration" von nikotinischen Rezeptoren (Arrieta & Artalejo, 1998).

Es ist nun allerdings leider nicht so, daß wir, wie die Reklame der Pharmaindustrie uns glauben machen könnte, kurz vor der Beherrschung der Alzheimer-Krankheit stehen würden. Die Medikamente wirken nur in einem gewissen Prozentsatz der Erkrankungsfälle. Tacrin ist für nur 20 Prozent der Patienten von Nutzen und der Nutzen ist auch in diesen Fällen nur beschränkt. Wir können auch nicht behaupten, daß die Acetylcholin-Hypothese wirklich eine ausreichende Erklärung der Krankheit liefert, denn sie erlaubt es nicht ohne weiteres, einen schlüssigen Zusammenhang mit den für die Krankheit typischen Verhaltensänderungen der Patienten herzustellen. Alzheimer-Demenzen sind durch ein spezifisches Muster von Störungen charakterisiert, es gibt bisher keine tragfähige Brücke zwischen den Annahmen auf zellbiologischer Ebene und den Charakteristika dieses Störungsmusters.

Gerade in dieser Hinsicht könnte ein Quereinstieg über die Linguistik neue Einsichten liefern. Wir verfügen einerseits im linguistischen Bereich über gut ausgearbeitete Vorstellungen zu kognitiven Prozessen und apparativen Grundlagen, die bis auf die Zellebene hinabreichen, andererseits gehört ein auf interessante Weise differenziertes Spektrum von Sprachstörungen mit zum Krankheitsbild einer Alzheimer-Demenz (vgl. Bayles & Kaszniak, 1987; Emery, 1996).

Die folgenden Überlegungen sollen andeuten, wie der Einsatz linguistischer Modelle in diesem Sinne aussehen kann und welche Folgerungen für das Verständnis der Alzheimer-Krankheit sich ergeben.

Grundlage sind Modelle sprachverarbeitender Prozesse auf neuronaler Ebene, die in Computersimulationen realisiert sind und neuronale Architekturen verwenden, die sich, anders als die bekannten "künstlichen neuronalen Netze", streng an der Biologie orientieren, einschließlich der Annahme (und Simulation) biologisch realistischer Lernmechanismen.

Die Strukturen sind, wieder im Vergleich zu künstlichen neuronalen Netzen, sehr komplex, es dauert viele Stunden, sie auch nur annähernd in ihrer Funktion zu erklären und zu begründen (zu den Grundlagen vgl. Kochendörfer, 1997; Kochendörfer & Schecker, 1998). Im Rahmen eines kurzen Textes kann nur, wie man manchmal sagt, ein "Gefühl" dafür vermittelt werden.

Ich verwende dazu eine Graphik, in der man das Verhalten einiger Neuronen sieht, in einer Simulation, die den Vorgang der syntaktischen Analyse beim Verstehen eines einfachen Beispielsatzes darstellt. Der Input in das neuronale Netz sind Impulsbursts, die die Intensität phonetischer Merkmale ausdrücken, die zeitlich realistisch gereiht aufeinanderfolgen (in der Abbildung ganz rechts). Die Lautkette entspricht dem Satz "die Aff äh Schlangen beißen die Affen".

Am unteren Rand sind die Identifikationen ausgewählter Zellen notiert, deren Aktivation auf der senkrechten Linie dargestellt ist. Die Zellen voc, cns usw. rechts entsprechen phonetischen Merkmalen, stellen also den Input dar. Der Zeitverlauf ist von oben nach unten. Eine die senkrechte Linie durchstoßende waagrechte Linie stellt ein Aktionspotential dar, die Zelle "feuert". Die Schwärzung nur rechts oder links der senkrechten Linie symbolisiert das exzitatorische postsynaptische Potential (EPSP) bzw. das inhibitorische postsynaptische Potential (IPSP) der Zelle.

Das Netz zeigt ein Zusammenwirken von bottom-up (in Perzeptionsrichtung) und top-down (in Produktionsrichtung) wirkenden Impulsfolgen.

Dieses Modell hat eine Eigenheit, die in verschiedener Hinsicht von grundsätzlicher Bedeutung ist. Es ist auffällig, daß das Netz nach Ausbleiben des Inputs nicht einfach "stumm" bleibt, sondern Aktionspotentiale und vor allem exzitatorische postsynaptische Potentiale mit einer Frequenz von ca 10/s zeigt. Diese Aktivität ist Folge einer Komponente, die auf Inkohärenzen in der syntaktischen Verarbeitung reagiert und entsprechende Reparaturen einleitet. In unserem Beispielsatz entsteht eine solche Inkohärenz an der Stelle des "äh", im Input des Netzes an einer kleinen Pause erkennbar. Man sieht, daß an dieser Stelle eine mit gko bezeichnete Zelle einen einzelnen Impuls abgibt und es ist diese Zelle, von der am Ende des Inputs die fortdauernde Aktivität des Netzes ausgeht. Es handelt sich also um eine Komponente, die, obwohl sie bei automatischem und ungestörtem Verarbeitungsverlauf unterdrückt wird, doch eine wesentliche Funktion für die Sprachverarbeitung hat. Die Frequenz ist abhängig von der für natürliche Sprachen typischen Sprechgeschwindigkeit, ist also nicht einfach frei wählbar, aber konstant, das heißt nicht von Augenblick zu Augenblick wechselnd.

Es liegt, schon wegen der Verhaltensanalogie, nahe, diese Aktivität mindestens versuchsweise mit dem Alpha-Grundrhythmus des Elektroenzephalogramms (EEG) gleichzusetzen. Der Alpha-Grundrhythmus kann abgeleitet werden, wenn die untersuchte Person wach und entspannt ist und die Augen schließt (das heißt, daß möglichst kein Input erfolgt). Die durchschnittliche Frequenz bei jüngeren Personen liegt bei 10/s. Da es ohnehin über die Funktion des Alpha-Grundrhythmus bisher nur vage Spekulationen gibt, scheint uns dieser Versuch einer Interpretation legitim zu sein. (Zum EEG vgl. z. B. Zschocke, 1995.)

Man kann nun zeigen und durch Simulation untermauern, daß dieses selbe Signal zur Erklärung der Phänomene episodischer Speicherung herangezogen werden kann. Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, so bedeutet das nicht, daß wir alle Sinneseindrücke, die auf uns einstürmen, in unserem Gedächtnis festhalten. Es werden nur solche Sinneseindrücke verankert, die für uns subjektiv und meist unbewußt etwas Besonderes haben. Das setzt technisch gesprochen die Feststellung einer Inkohärenz voraus und in der Konsequenz eine Top-down-Aktivität, die zur Verankerung der Spur führt. Wir haben bezüglich der Inkohärenz-Reaktion genau dieselben Verhältnisse wie bei der Analyse des durch einen Satzbruch gestörten sprachlichen Inputs, der Unterschied besteht natürlich in dem anschließenden Speicherprozeß, der zusätzliche Voraussetzungen hat, die wir hier übergehen wollen.

Von dieser Position aus ergibt sich sofort auch ein natürlicher Zusammenhang mit den Beobachtungen an entsprechenden ereigniskorrelierten EEG-Potentialen, insbesondere mit dem als P300 bezeichneten Potential, das dann ableitbar ist, wenn in einer monotonen Reihen von Stimuli ein aus der Reihe fallendes Ereignis auftritt. Es wird ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses Potentials und dem Gedächtnis vermutet. (Karis, Fabiani & Donchin, 1984).

Wenn wir über Simulationsmodelle dieser Art verfügen, können wir auch untersuchen, was im Störfall passiert. Unsere Versuche zum Thema Alzheimer waren zunächst naiv an einem Diskonnektions-Paradigma orientiert, d. h. wir haben versucht, zu simulieren, was bei einer Unterbrechung von Bahnen passiert, die (im Modell) Einfluß auf die episodische Speicherung haben. Die Erfolge waren nicht sehr ermutigend, die errechneten Symptome waren viel dramatischer als das, was man bei Alzheimer-Demenzen, jedenfalls in den Anfangsstadien, beobachtet. Das betrifft vor allem den Bereich der Sprachverarbeitung, der viel stärker gestört war, als bei Frühstadien der Alzheimer-Demenz der Fall ist. Dasselbe Bild hat sich ergeben beim Versuch, bestimmte Gruppen beteiligter cortikaler Synapsen in ihrer Leistungsfähigkeit zu reduzieren.

Die einzigen einigermaßen erfolgreichen Simulationen waren die mit einer Reduktion der Frequenz desjenigen Signals, das wir zuvor mit dem Alpha-Grundrhythmus des EEG gleichgesetzt hatten, insbesondere waren jetzt genau diejenigen Gedächtnisstörungen zu erwarten, die man bei Alzheimer-Demenzen tatsächlich beobachtet. Außerdem war es möglich, eine Unterscheidung zu treffen zwischen primären Symptomen (z. B. den Gedächtnisstörungen in der Anfangsphase) und Symptomen, die Folgeerscheinungen davon sind.

An dieser Stelle sind nun einige ergänzende Informationen erforderlich:

Es ist bekannt, daß zu den stabilsten Erscheinungen bei Alzheimer-Demenzen tatsächlich die passenden EEG-Befunde gehören:

Für Nikotin gilt im Hinblick auf das EEG:

Die Zusammenhänge zwischen den einleitend angedeuteten Befunden zum Thema Rauchen und Alzheimer werden jetzt interpretierbar:

Der Linguist kann es nicht wagen, die medizinischen Konsequenzen zu ziehen. Es scheint jedenfalls aus der Modellbildung heraus die Möglichkeit zu bestehen, eine Krankheitseinheit "Alzheimer-Demenz" zu sehen (bisher sieht man nur ein Bündel von Symptomen) und daraus wünschenswerte Angriffspunkte für eine früh einsetzende Therapie zu konstruieren.

Es ist, um zum Schluß zu kommen, ziemlich plausibel, daß Rauchen tatsächlich an einer der tieferen Wurzeln der Alzheimer-Krankheit ansetzt und damit das Alzheimer-Risiko senkt.

Literatur

Arrieta, L. & Artalejo, F. R. (1998) Methodology, results and quality of clinical trials of tacrine in the treatment of Alzheimer's disease: a systematic review of the literature. Age and Ageing 27, 161-179

Bashore, T. R. Jr. (1990) Age-related changes in mental processing revealed by analyses of event-related brain potentials. In: Rohrbaugh, J. W., Parasuraman, R. & Johnson, R. Jr. (eds.), 242-275

Bayles, K. A. & Kaszniak, A. W. (1987) Communication and cognition in normal aging and dementia. London: Taylor & Francis

Becker, R. & Giacobini, E. (1997 eds.) Alzheimer disease: from molecular biology to therapy. Boston: Birkhäuser

Emery, V. O. B. (1996) Language functioning. In: Morris, R. G. (ed.), 166-192

Fitten, L. J., Perryman, K. M., O'Neill, J. & Halgren, E. (1994) Influence of cholinesterase inhibitors on cortical slow-wave activity in aging nonhuman primate. Pharmacology, Biochemistry and Behavior 49, 235-239

Foulds, J., McSorley, K., Sneddon, J., Feyerabend, C., Jarvis, M. J. & Russell, M. A. (1994) Effect of subcutaneous nicotine injections of EEG alpha frequency in non-smokers: a placebo-controlled pilot study. Psychopharmacology 115, 163-166

Houlihan, M. E., Pritchard, W. S. & Robinson, J. H. (1996) Faster P300 latency after smoking in visual but not auditory oddball tasks. Psychopharmacology 123, 231-238

Karis, D., Fabiani, M.] & Donchin, E. (1984) "P300" and Memory: Individual differences in the von Restorff effect. Cognitive Psychology 16, 177-216

Kochendörfer, G. (1997) Neuronale Modelle des Sprachverstehens. Freiburg: HochschulVerlag

Kochendörfer, G. & Schecker, M. (1998) Schizophrenie, Psychopharmaka und Stottern. Tübingen: Gunter Narr Verlag

Lippiello et al. (1997) RJR-2403: A CNS-selective nicotinic agonist with therapeutic potential. In: Becker, R. & Giacobini, E. (eds.), 281-286

Morris, R. G. (1996 ed.) The cognitive neuropsychology of Alzheimer-type dementia. Oxford, New York, Tokyo: Oxford University Press

Pickworth, W. B., Fant, R. V., Butschky, M. F. & Henningfield, J. E. (1997) Effects of mecamylamine on spontaneous EEG and performance in smokers and non-smokers. Pharmacology, Biochemistry and Behavior 56, 181-187 1997

Rohrbaugh, J. W., Parasuraman, R. & Johnson, R. Jr. (1990 eds.) Event-related brain potentials: basic issues and applications. New York, Oxford: Oxford University Press

Shigeta, M., Persson, A., Viitanen, M., Winblad, B., & Nordberg, A. (1993) EEG regional changes during long-term treatment with tetrahydroaminoacridine (THA) in Alzheimer's disease. Acta Neurologica Scandinavica Supplementum 149, 58-61

Zschocke, S. (1995) Klinische Elektroenzephalographie. Mit einem Beitrag von S. Kubicki über das Schlaf-EEG und einem Geleitwort von E. Niedermeyer. Berlin, Heidelberg: Springer

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(Copyright "Neurolinguistisches Labor", Freiburg im September 1998)

 

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